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Fall 3:(Ir-)Relevanz der Substanz
Sachverhalt:
Heinrich Tippe verhandelt mit Carlo Neumeier noch immer über den Verkauf seiner Steuerberatungskanzlei. Der Unternehmensbewerter hat ihm vorgerechnet, dass sein Unternehmen bei einem Nettocashflow von jährlich 25 000 Euro und einer Alternativrendite von 5 % exakt 500 000 Euro wert ist. Fast hätte Tippe ihm das geglaubt. Dann kommen ihm aber doch Zweifel. Der Unternehmensbewerter hat den Wert seines Unternehmens ausschließlich dadurch ermittelt, dass er die zukünftigen Einzahlungen um die zukünftigen Auszahlungen vermindert hat und den Differenzbetrag diskontierte. Aber er hat überhaupt nicht auf die Bilanz gesehen. Und diese enthält doch zahlreiche Aktiva und Passiva:
Tabelle 8:Bilanz der Kanzlei „Tippe“
Bilanz (in €) zum 31. 12. 2019 |
Software, Lizenzen |
40 000 |
Eigenkapital |
187 000 |
Grundstück Neudorf |
100 000 |
Jahresüberschuss |
25 000 |
Betriebsausstattung |
158 000 |
Rückstellungen |
3 000 |
Forderungen aus LuL |
7 000 |
Verbindlichkeiten aus LuL |
5 000 |
Bank und Kasse |
15 000 |
Bankdarlehen |
100 000 |
Bilanzsumme |
320 000 |
Bilanzsumme |
320 000 |
Tippe wirft noch einmal einen Blick auf die Zahlen und die Bilanzobjekte und erläutert einige Positionen:
Kundenstamm: |
Tippe hat zahlreiche Kunden, die ihm seit Jahrzehnten die Treue halten. Er muss nicht wie seine Kollegen z.B. Musikveranstaltungen sponsern, um sich bei potenziellen Mandanten in Erinnerung zu bringen. Er geht davon aus, dass dieser Kundenstamm einen Wert von 80 000 Euro hat. Der Kundenstamm ist aber überhaupt nicht aktiviert. In der Buchhaltersprache nennt man das Ansatzreserve. |
Software, Lizenzen: |
Die Lizenzen wurden erst vor wenigen Jahren gekauft. Zum Glück hatte der damalige Finanzminister ein Einsehen mit geplagten Steuerberatern. Diese durften Software im Erwerbszeitpunkt sofort i.H.v. 80 % der Anschaffungskosten abschreiben. Tippe geht davon aus, dass die Software einen Zeitwert hat, der 30 000 Euro über ihrem Buchwert liegt (Bewertungsreserve). |
Grundstück Neudorf: |
Das Grundstück ist seit Jahrzehnten in seinem Besitz. Tippe würde sich von ihm nie trennen, aber für das Steuerbüro ist es viel zu klein und abgelegen. Tippe hat es deshalb vermietet und sein Büro in fremden Räumen untergebracht. Die jährlichen Mieteinnahmen von 8 000 Euro, die Tippe erzielt, decken die laufenden Grundstücksausgaben (3 000 Euro). Ähnliche Grundstücke wurden in der Nachbarschaft gerade für 250 000 Euro verkauft. An Verkaufsspesen (Inserate etc.) fielen ca. 2 000 Euro an. |
Betriebsausstattung: |
Die Betriebsausstattung ist gut in Schuss. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Schreibtische, PC und Aktenschränke sowie einen neuen Pkw für Mandantentreffen. Allein der Pkw hat einen Buchwert von 50 000 Euro, der auch seinem Zeitwert entspricht. |
Forderungen LuL: |
Die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen sind angemessen. Tippe ist stolz auf sein Zahlungsmanagement. Seine Kunden zahlen im Durchschnitt sieben Tage nach Leistungserbringung. |
Bank und Kasse: |
Tippe benötigt den Bank- und Kassenbestand, um laufende Rechnungen zu bezahlen und nicht in die roten Zahlen zu rutschen, weil ein Lieferant unplanmäßig seine Forderung einzieht. Normalerweise genügt ein Bank- und Kassenbestand i.H.v. 2 000 Euro. Kurz vor dem Bilanzstichtag hat ein Mandant aber eine größere Rechnung (14 000 Euro) in bar bezahlt. |
Rückstellung: |
Die Rückstellung betrifft eine Klage, die ein Mandant gegen Tippe führt, weil er im vergangenen Jahr eine falsche Beratung erhielt. Tippe geht davon aus, dass er den Prozess verliert und den Schadenersatz im kommenden Jahr in der bilanzierten Höhe bezahlen muss. Leider deckt seine Haftpflichtversicherung diesen Schaden wohl nicht ab. |
Verbindlichkeiten LuL: |
Die Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen sind betriebstypisch und bewegen sich durchweg auf dem Niveau des Bewertungsstichtags. |
Bankdarlehen: |
Das Bankdarlehen wird mit 6 % risikogerecht verzinst. Es wird im kommenden Jahr zur Rückzahlung fällig. |
Aufgabenstellung:
Welche Rolle spielt die Substanz des Unternehmens bei der Unternehmensbewertung, wenn diese mit dem Gesamtbewertungsverfahren durchgeführt wird? Diskutieren Sie für jede Bilanzposition der Kanzlei „Tippe“, ob (warum) und wenn ja, in welcher Höhe sie zu einer Korrektur des Ertragswerts führt! Unterstellen Sie dabei, dass der Diskontierungszins (5 %) von den Anpassungen nicht betroffen ist.
I. Erläuterung
1. Grundsätzliche Irrelevanz der Substanzwerte
Bei der Gesamtbewertung ermittelt der Unternehmensbewerter den Ertragswert des Unternehmens, indem er die zukünftigen Nettocashflows des Unternehmens auf den Bilanzstichtag diskontiert. Der Substanzwert an sich ist irrelevant.49 Der Wert der betriebsnotwendigen (oder genauer: zur Erzielung der Cashflows notwendigen) Vermögensgegenstände (z.B. Grundstücke und Know-how) schlägt sich vollständig im Ertragswert des Gesamtunternehmens nieder. Denn ein Unternehmen, dem ein betriebsnotwendiges Produktionsgebäude gehört, spart Mietausgaben. Diese Einsparung führt c.p. zu höheren Nettocashflows und – bei gleichbleibendem Zinssatz – zu einem höheren Ertragswert. Würde der Bewerter den Marktwert des Gebäudes zusätzlich zum Ertragswert erfassen, so muss er unterstellen, dass der Unternehmer das Gebäude zu diesem Preis verkauft und einen zusätzlichen Netto-Verkaufs-Cashflow erzielt. Allerdings muss der Bewerter dann in einem zweiten Schritt prüfen, welche Zusatzausgaben (Miete oder Kaufpreis) dem Unternehmen dadurch entstehen, dass es kein eigenes Produktionsgebäude mehr besitzt, das es ja dringend benötigt, und den Ertragswert entsprechend verringern.
2. Relevanz der Substanz bei unzureichender Ausstattung mit Anlage- und Nettoumlaufvermögen
Die Irrelevanz der Substanz hat jedoch ihre Grenzen. Wird z.B. über den Kauf eines Unternehmens nachgedacht, ist es von besonderem Interesse, welchen Nutzen die schon vorhandene Substanz für den Käufer hat. Die indirekte Bedeutung des Substanzwerts kommt in seiner Interpretation „als vorgeleistete Ausgaben“50 insofern zum Ausdruck, als „dem Investor durch das Vorhandensein von Vermögensteilen entweder künftige Ausgaben ganz erspart bleiben oder doch zumindest ihr Anfall zeitlich hinausgezögert wird: Substanz substituiert künftige Ausgaben“51 und ermöglicht die Vornahme von zukünftig höheren oder zumindest vorgezogenen Ausschüttungen, da entsprechende Beträge nicht mehr (zeitnah) zum Erwerb von betriebsnotwendigem Vermögen eingesetzt werden müssen, sondern an die Unternehmenseigner verteilbar sind.
Der Unternehmensbewerter muss demzufolge danach fragen, ob die am Bewertungsstichtag vorhandene Substanz ausreicht, um die geplanten Nettocashflows in der Prognosephase auch zu ermöglichen. Sind bestimmte Anlagegegenstände zwar betriebsnotwendig, aber nicht (in ausreichendem Umfang) im Unternehmen vorhanden, so verringern deren Wiederbeschaffungskosten den Ertragswert des Unternehmens.
Kalkuliert z.B. der Bewerter eines Fuhrunternehmens mit einem gleichbleibenden jährlichen Nettocashflow von 500 000 Euro (langfristiger Auftrag eines Kunden) und einem Zinssatz von 10 %, so beträgt der Ertragswert der ewigen Rente 5 Mio. Euro. Ist jedoch für die Erzielung des Nettocashflow ein funktionstüchtiger Lkw im Wert von 200 000 Euro erforderlich, und stellt der Unternehmensbewerter fest, dass der dafür vorgesehene Lkw des Fuhrunternehmens vor dem Bewertungsstichtag zerstört wurde, so ist der Unternehmenswert zu korrigieren. Diese (wertmindernde) Korrektur ist vorzunehmen, indem der Ertragswert (5 Mio. Euro) um die Wiederbeschaffungskosten des Lkw (200 000 Euro) vermindert wird. In diesem (Ausnahme-)Fall wird die Substanz neben der Ertragskraft des Unternehmens separat bewertet.
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