»Ich hab’s doch gesehen! Wie du sie heute immer angestarrt hast!«, ruft Ossi. Julius stößt Ossi vor die Brust, sodass er beinahe auf die Straße fällt. Da endlich wird die Ampel grün, alle Kinder drängeln rüber. Ossi ruft:
»Hey Mona, du hast hier einen Verehrer!«
Ich laufe schneller.
»Die stumme Mona! Wer will die schon haben«, höre ich Julius laut antworten.
Und Ossi: »Hey komm, wir bringen die mal zum Reden.«
Wir sind jetzt bei der Unterführung angelangt. Ich beginne zu rennen, der Ranzen schlackert gegen meinen Rücken. Julius und Ossi beginnen auch zu rennen und rufen:
»Mona renn doch, Mona flenn doch!«
Sie kommen immer näher! Die Unterführung ist lang, und ich weiß, hier kann mir niemand helfen. Da schmeiße ich meinen Ranzen ab und renne um mein Leben. Die Jungs sind mir wie Hunde dicht auf den Fersen. Die Treppe rauf stolpere ich. Autsch! Mein Knie. Egal. Weiter. Irgendwann kann ich nicht mehr. Da, schnell in die Eisdiele. Der dicke Eisverkäufer mit dem Schnurrbart steht hinter dem Tresen.
»Alles okay, Kleine?«, fragt er.
Ich nicke und wende mich ab, aber er lässt mich nicht in Ruhe.
»Bist ja ganz außer Atem. Komm, setz dich. Kriegst ’ne Kugel Eis auf den Schreck. Schokolade?«
Ich hasse Schokolade. Aber die Jungs hängen direkt vor der Eisdiele an der Bushaltestelle herum. Ich nicke. Nehme das Eis und setze mich in eine Ecke, lecke an dem klebrigen Zeug herum. Mein Knie tut echt weh. Das wird ein dicker blauer Fleck werden. Und wie komme ich jetzt an meinen Ranzen? Sicher bewachen ihn die Jungs. Die denken bestimmt, dass ich ihn jetzt gleich holen werde. Aber – das werde ich nicht. Ich werde ihn einfach morgen früh einsammeln. Hausaufgaben hin oder her.
Als die Jungs gerade nicht zu sehen sind und der Eismann summend an der Kaffeemaschine herumputzt, schleiche ich raus. Tut mir leid, Eismann. Ich hätte mich gerne bedankt.
Völlig außer Atem komme ich zu Hause an. Zerre das Lederband mit dem Schlüssel, das ich immer um den Hals trage, unter meinem Hemd hervor. Mit zittrigen Fingern schließe ich die Haustür auf, dann die Wohnungstür. Schnell, bevor Frau Schilling mich hört.
Zack, Tür zu. Geschafft!
Als ich meinen Ranzen abnehmen will, erschrecke ich kurz, weil er nicht da ist. Dann hole ich das Strickzeug unter meinem Bett hervor und setze mich damit auf den Teppich. Stricken beruhigt.
Rechts, links, rechts, links …
Die können mich mal, die Jungs. Wenn die wüssten.
Rechts, links, rechts …
Als die Abendglocken zu läuten beginnen, pikse ich die Nadeln in das Knäuel, springe auf und schlüpfe hinaus in die Dämmerung.
Mit dem letzten Schlag der Kirchturmglocken senkt sich die Brücke rasselnd über den Graben. Ich treibe mein Pferdchen an, und es klackert fröhlich hinüber zur Burg, denn es weiß, dass der Torhüter immer Zuckerstückchen in der Tasche hat.
»Ihr werdet schon erwartet«, begrüßt uns Wächter Eichenast und lacht sein knorriges Lachen, als Sturm die Nüstern in seinen Mantel gräbt. Ich springe herab, reiche Eichenast die Zügel und meinen Helm. Jetzt die Treppen hinauf. Über weiche, wunderbare Teppiche laufe ich. Diesmal nehme ich mir nicht wie sonst die Zeit, all die herrlichen Figuren und Muster darauf zu bewundern, ich möchte endlich wieder bei ihr sein. Überall, wo man mich erblickt, beginnt ein wohlwollendes Raunen.
»Sie ist da, die Blaue Ritterin ist angekommen …« Und: »Sie hat es geschafft! Sie hat durchgehalten!«
Ein Diener rennt vor mir her, um mich anzukündigen. Aber das ist kaum nötig, denn schon bin ich in der großen Halle. Die Strahlenfrau erhebt sich und eilt mir entgegen. Sie nimmt meine beiden Hände und küsst mich auf die Stirn. Dann geleitet sie mich zum Kamin. Sie nimmt dem Diener eine flauschige Decke ab und legt sie um meine Schultern. Mi und Mo, meine Spielgefährten, stehen hinter dem Sofa und strahlen mich an. Heute sind sie beide ganz blau gekleidet, so wie ich. Bestimmt, um mir eine Freude zu bereiten. Eifrig klopfen sie die Sofakissen für mich zurecht. Ach, Mi und Mo. Ihr seid so gut zu mir.
Wir setzen uns, und die Strahlenfrau sagt nur ein Wort: »Erzähle.«
Ihre Augen sind voller Wärme und Mitgefühl, denn sie weiß, dass ich von der anderen Seite oft mit Verletzungen zurückkehre. Keine kann ich vor ihr verbergen.
Also erzähle ich, wie Julius und Ossi mich verfolgt haben. Wie ich um mein Leben rennen musste und dabei gestürzt bin. Besorgt sieht die Strahlenfrau mich an.
»Zeig mir dein Knie.« Sie verarztet mich mit einer Salbe aus duftenden Kräutern und summt dabei zauberhafte Melodien.
Diener huschen herein, sie bringen Tabletts mit Gebäck und Säften, das Feuer knistert und ich wünschte, ich müsste nie wieder zurück auf die andere Seite.
Später gehen wir noch im Paradiesgarten spazieren. So nenne ich den Park, der die Burg umgibt, denn er ist wunderschön. Die riesigen Baumkronen und blühenden Büsche sind voller Vögel. Sie kreischen nicht, sie pfeifen zauberhafte Melodien. Nicht Hänschen-Klein oder so. Viel schönere Lieder als Menschen sie sich jemals ausdenken könnten.
Die Strahlenfrau stützt mich, wegen des Knies.
»Es tut schon gar nicht mehr weh«, sage ich.
»Wie tapfer du bist.«
Als wir an einem Beet mit blauen Irisblumen vorbeikommen, bückt sich die Strahlenfrau hinunter, wie um eine zu pflücken. Aber sie berührt die Blüte nur, und schon liegt sie in ihrer Hand.
»Für meine Blaue Ritterin«, sagt die Strahlenfrau und steckt mir die Blüte ins Haar. Wir kommen zu einer kleinen Wiese, die mitten im herrlichen Sonnenschein liegt. Schmetterlinge flattern zwischen den Wildblumen herum. Es duftet nach Lavendel. »Oh, wie schön«, sage ich. »Hier würde ich gern mal ein Picknick machen.« Genau da kommen Mi und Mo mit einem Picknickkorb den Pfad entlang.
»Woher …«, sage ich, aber sie lachen nur und stellen den Korb auf der Wiese ab. Mi holt ein Tuch heraus, Mo fasst es an der anderen Seite. Als sie das Tuch auf der Wiese ausbreiten wollen, kommt ein Windstoß und bläht es auf, wie ein riesiges Segel. Ich eile ihnen zu Hilfe, lachend bändigen wir das Tuch und beschweren es mit Dingen aus dem Korb. Was da alles drin ist: Saftflaschen. Eine Schüssel Nudelsalat. Ein Kuchen. Eine Schale Erdbeeren, Tüten voller Plätzchen und noch viele weitere Köstlichkeiten. Auch Kissen haben sie mitgebracht, wir machen es uns gemütlich. Mi verteilt Gläser, die unten spitz sind wie Eistüten. Mo schenkt ein. Und dann stoßen wir an: »Auf die Rote Burg!«, »Auf die Blaue Ritterin!«
Und dann tue ich, was die anderen tun: Ich pikse mein halbvolles Glas einfach in die Erde. Ein Schmetterling kommt angeflogen, setzt sich an den Rand des Glases und steckt seinen langen, dünnen Rüssel in den roten Saft. Ich lege mich auf den Bauch und sehe ihm zu. Als er genug hat, schwingt er sich auf und fliegt davon, Richtung Sonne, und in seinem winzigen Magen ist ein Tropfen von meinem Saft.
Es ist halb acht, als ich mich am nächsten Tag ohne Schulsachen auf den Weg zur Schule mache. Wie seltsam sich das anfühlt. Hoffentlich finde ich den Ranzen gleich. Wenn ich es schaffe, am Zebrastreifen zu sein, bevor ein Auto vorbeifährt, dann ist er noch da!
Ich rase los, ein Auto hält mit quietschenden Reifen.
»Du bist wohl nicht ganz dicht!«, brüllt ein Kopf, der sich aus dem Autofenster reckt. Schnell mein Visier runterlassen und weiter. Jetzt bin ich bei der Unterführung. Da, das muss die Stelle sein …
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