»Hey«, rufe ich, »lass das!«
Ich fahre mit der Hand unter Sturms Mähne, kraule seinen starken Nacken. Dann gehe ich nach hinten zum Heuschober und hole einen Armvoll Heu, das ich den Pferden in die Raufen stopfe.
»Bin gleich wieder da«, sage ich und küsse Sturm auf die Nüstern. Sie sind weich und haarig. Ich sehe in der Sattelkammer nach Eichenast, doch auch hier ist er nicht. Mit der Hand streiche ich über die von vielen Ritten speckigen Ledersättel. Zuoberst hängt der Sattel der Strahlenfrau mit den Goldnähten und den Lederverzierungen. Meiner ist schlichter, man erkennt ihn an den blauen Riemen. Rechts an der Wand hängen die Trensen, die sind mit echten Silberplättchen verziert.
Gibt es etwas Schöneres? Wie es wohl wäre, mit der Strahlenfrau auf die andere Seite zu reiten? Sie auf ihrem Silberpfeil, ich auf Sturm. Wir würden an der Schule vorbeigaloppieren, wenn gerade Pause wäre, und Ossi und Julius könnten nur gerade eben noch zur Seite springen … aber so wird es nicht kommen. Die Strahlenfrau reitet nie auf die andere Seite …
»Na, Blaue Ritterin?«
»Eichenast!« Auf einmal steht er hinter mir. Seine Augen blitzen.
»Was hast du vor?«
»Ach«, ich räuspere mich. »Ich habe nur darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn ich mal mit dem schönen Zaumzeug auf Sturm zur Schule reiten könnte. Dann würden die anderen endlich mal sehen … ach, egal.«
»Nichts ist egal, was die Blaue Ritterin sagen will. Was sollen die anderen sehen?«
»Na ja.« Ich richte mich auf, gucke herausfordernd in die guten, blauen Augen von Wächter Eichenast. »Dass ich eigentlich stark und mutig bin.«
Eichenast nimmt mir die Trense aus der Hand und hängt sie sorgfältig zurück an den Nagel.
»Dein Mut hängt doch nicht an einer Trense!«, brummt er. Dann schaut er mich an. »Dein Mut gehört zu dir. Den trägst du in deinem Herzen.« Er pikst mich, und ich quietsche.
»Du, Eichenast! Ich habe eine Idee.«
»Was gibt es?«
»Kann ich heute bei Sturm schlafen?«
»Warum nicht?«
Er bringt mir Pferdedecken und ein paar Äpfel zu Sturms Box. Natürlich werden die Äpfel mit Sturm geteilt, auch wenn er mir den Ärmel vollsabbert. Dann bereite ich mir ein Nest im Stroh und kuschle mich in die Decken ein.
Eichenast kommt noch einmal vorbei. Er lehnt sich auf das Gatter und schaut zu mir herunter.
»Sagst du der Strahlenfrau noch Bescheid, dass ich hier bin?«, bitte ich ihn. Er nickt.
»Eichenast?«, frage ich. »Was würde eigentlich passieren, wenn ich mal eine Zeit lang … nicht kommen könnte?«
»Nun ja«, sagt er. »Wir würden dich sehr vermissen.«
»Nur das?«
Eichenast fährt mit den Fingern durch seinen Bart. Sein Blick ist ernst.
»Wir würden müde werden, Blaue Ritterin. Sehr müde. Und, nun ja … wir könnten dann nicht mehr weiterbauen an unserer Roten Burg. Dein Türmchen – hast du es gesehen?«
Ich nicke.
»Nun – du willst doch sicher, dass es fertig wird.«
Er klopft noch einmal auf das Gatter, dann stapft er in die Sattelkammer.
Im Dämmerlicht betrachte ich die vielen Ziegelsteine und höre wieder die Stimme der Strahlenfrau.
Unsere Rote Burg. Aus Schweigestunden erbaut …
Ich habe schon ganz schön viel geschwiegen. Und jeder Stein hat eine Geschichte! Auf einmal muss ich kichern. Mindestens einen hab ich Ossi zu verdanken, weil der gestern so dumm war, mitten im Unterricht einen Luftpups zu machen. Herr Holtigbaum hatte gerade gefragt, wer erklären könnte, was römische Legionen sind. Er hatte die Hände hinten in seinen Gürtel und kam langsam auf mich zu. Ich versteckte mich hinter meinem Helm und bekam ganz schwitzige Hände. Genau da kam von Ossi dieses Geräusch. Er macht das, indem er seine hohle Hand unter die Achselhöhle steckt und dann den Ellbogen ganz schnell hebt und wieder fallenlässt. Es hört sich an wie ein echter, feuchter Furz. Die Klasse grölte vor Lachen. Ossi flog natürlich raus und bekam eine Strafarbeit. Pech für ihn. Aber Glück für mich. Weil mich vergaß der Holtigbaum komplett.
Aber nicht alle Schweigesteine der Roten Burg habe ich ehrlicherweise verdient, finde ich. Manche eher durch Zufall. Es war zum Beispiel kürzlich so, dass die Dramaqueens mich ansprachen. Das hatten sie noch nie getan. Ich stand wie immer allein im Pausenhof herum, da kamen sie an mir vorbeigeschlendert und kicherten über irgendwas. Erst dachte ich, über mich. Aber als sie direkt neben mir standen, hörte ich, dass es um die Jungs aus der achten Klasse ging. Na klar. Wer in wen ist und so, immer dasselbe. Emily stand direkt neben mir, und irgendwann seufzte sie und warf ihre Haare nach hinten – ich glaube, ihr ging das Thema auch auf die Nerven. Und da guckte sie mich an, als hätte sie bis eben noch gar nicht bemerkt, dass ich neben ihr stand.
»Hey Mona«, sagte sie. »Stimmt es, dass deine Mutter Ärztin ist?«
Rieke sah mich jetzt auch an und kaute interessiert an ihrem Zopf. Ich nickte. Da wurde Emily aufgeregt.
»Weil … mein Bruder«, sagte sie, »also, der musste mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus …«
»Warum?«, fragte jemand.
»Was war?«
Die Dramaqueens standen jetzt alle um uns herum.
»Also, der ist vom Garagendach gefallen«, sagte Emily. »Aber egal. Jedenfalls kam er gestern nach Hause, und meine Mutter so zu mir: ›Hast du nicht eine Jaschke in der Klasse?‹ Und ich so: ›Ja, die Mona.‹ Also dich. Und meine Mutter so: ›Dann ist das vielleicht die Tochter von dieser netten Ärztin, die uns betreut hat. Frau Dr. Jaschke.‹«
Wieder nickte ich. Keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn nicht genau in dem Moment die Pausenglocke geläutet hätte. Vielleicht hätte ich dann was zu Emily gesagt? Aber jetzt fingen alle an, sich Richtung Klassenzimmer zu bewegen, und Emily vergaß, dass wir uns unterhalten hatten. Wie schön es sich anfühlte, zusammen mit allen anderen zu laufen …
Das Schnauben und Stampfen der Pferde macht mich schwer und müde. Einmal noch wache ich auf, weil Sturm mir einen schlabberigen Gute-Nacht-Kuss gibt, dann bin ich weg.
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