Außerdem verspätete Tarek sich absichtlich, um sich die Rede des Direktors bei der morgendlichen Versammlung zur Fahnenbegrüßung im Schulhof zu ersparen, denn diese Rede über die Herrlichkeit und Glorie des ewigen Führers und seiner Partei wurde seit fünf Jahren wiederholt, ohne ein einziges Wort daran zu verändern. Tareks Onkel Nisar hatte ihm das Geheimnis der gleichbleibenden Rede offenbart. »Der Geheimdienst hat im Kopf des Direktors eine Schallplatte installiert, und jeden Tag drücken sie in der Zentrale auf einen Knopf«, erklärte er dem Jungen im Sommer 1999. Onkel Nisar studierte in Frankreich. Wenn er im Sommer nach Damaskus kam, durfte Tarek einige Zeit bei ihm verbringen. Er liebte den wachen Geist und die fantasievollen Geschichten seines Onkels.
Tarek hasste die Schule und die Lehrerinnen, die ihm bei jedem Versäumnis mit dem riesengroßen Holzstock gnadenlos auf die Hände schlugen. Ein Jahr später, als er in der fünften Klasse war, ersparte Tarek sich das Springen von der Mauer und ging oft gar nicht mehr in die Schule. Sein Onkel Nisar hatte ihm ein paar Bücher geschenkt, und auf einmal war er vom Lesen wie besessen. Er tat, als würde er in die Schule gehen, machte einen großen Bogen, steckte seine Schuluniform in den Rucksack, ging zurück zu seinem Wohnblock und verschwand im Keller. Zwischen den alten Möbeln las er bei schwachem Licht stundenlang. Eine Uhr hatte er nicht. Wenn er den Lärm der heimkehrenden Kinder hörte, kam er wieder aus seinem Versteck. Bald war er mit den Büchern von Onkel Nisar fertig. Tarek schaute sich zu Hause und bei Bekannten nach Lesestoff um, aber er stieß nur auf religiöse Bücher. In der Schulbibliothek war es nicht besser. Dort ging es nur um Geographie, Nationalismus und um die Herrlichkeit des Präsidenten und seiner Partei. Seine Suche war auf Romane ausländischer Autoren gerichtet, kam allerdings rasch an ihr Ende, weil sein Schulschwänzen aufflog und sein Vater ihn schmerzhaft wieder zurechtbog. An diesem Abend verwandelte sich sein Vater Basam in Rocky Balboa und boxte ihn so heftig von allen Seiten, dass Tarek nicht mehr wusste, wo sein Vater stand. Er solle nie wieder ans Schulschwänzen denken. Einen der Boxhiebe bekam er auf die Schulter, die ihn noch jahrelang schmerzen sollte.
Trotz allem las Tarek manchmal heimlich in der Klasse weiter. Eine Geschichte liebte er ganz besonders: »Die Verwandlung« von Franz Kafka. Er identifizierte sich stark mit der Hauptfigur. Wenn er schlechte Noten hatte und nicht in die Schule gehen wollte, fühlte er sich wie der Käfer. Später, als Erwachsener, würde er eine andere Interpretation für diese Metapher finden.
Nach all den Jahren wirkt der Schulwart Abu Mudar auf Tarek nicht mehr so bedrohlich wie damals, sein böser Blick ist milder geworden und mit seinem gebeugten Rücken steht er kurz vor der Pensionierung. Jetzt lässt er alle Kinder durch das geöffnete Tor, obwohl es schon zwei Minuten nach acht ist, und sperrt es erst nach dem letzten Nachzügler ab.
Tareks Blick bleibt auf das Schultor gerichtet, er ist ganz in Gedanken versunken. Er nimmt kaum wahr, dass Salma hinter ihn tritt. »Habibi, bitte schau immer darauf, dass dir nicht kalt ist«, sagt sie mit besorgter Stimme und umarmt ihn fest von hinten. Tarek blickt weiterhin schweigend aus dem Fenster. »Tarek! Hörst du mich?«, wird sie lauter. »Ja, Habibti, mach dir keine Sorgen! Außerdem ist schon Frühling und vielleicht habe ich ja Glück und werde in Latakia oder in Tartus am Meer stationiert«, erwidert Tarek, lächelt seine Mutter an und versucht, sie aufzurichten. »Nein, Habibi, sag das nicht. Lass uns doch hoffen, dass du in der Nähe von Damaskus stationiert wirst und oft nach Hause kommen kannst«, erwidert Salma.
»Was haben wir ausgemacht? Ruhe bewahren! Ich werde nicht sterben! Es sind nur ein Jahr und neun Monate. Die werde ich ganz sicher überleben. Außerdem weißt du doch, dass der Vater von Nauras ein hochrangiger Offizier ist, der sich sicher dafür einsetzen wird, dass ich einen relativ ruhigen Büroposten bekomme«, sagt Tarek tröstend.
Ihn bedrückt auch, dass sein Vater sein festes Ritual eingehalten und bei seiner zweiten Frau übernachtet hat, obwohl Tarek an diesem Tag zum Militär einrücken muss. Tarek ist mit der Regelung aufgewachsen, dass sein Vater jeden zweiten Tag bei seiner anderen Familie verbrachte. Tarek wusste von ihnen, hat aber weder seine drei Halbschwestern noch Basams zweite Frau jemals kennengelernt. Der Vater wollte diese strikte Trennung. Tarek hasste diese zweite Frau von Anfang an und machte sie für die Kälte in seinem Zuhause verantwortlich. In seinem Freundeskreis kennt er niemand, dessen Vater zwei Frauen hat. Basam beruft sich dabei auf die religiöse Erlaubnis zur Polygamie. Aber er weiß, der Koran verpflichtet den Mann, der mehrere Frauen heiratet, gerecht zu sein und sie ganz und gar gleich zu behandeln. Jedoch geht Gott im Koran davon aus, dass diese verpflichtende Gleichbehandlung keinem Mann jemals gelingen kann. Daher schläft Basam abwechselnd bei seiner ersten Frau Salma und bei seiner zweiten Frau. Und das ist das Einzige, womit Basam seinen beiden Frauen und Familien Gerechtigkeit widerfahren lässt.
Tarek hatte seine Enttäuschung darüber schon immer vor seiner Mutter verborgen, sie hatte unter diesem Mann genug gelitten, und er will auch heute keine alten Wunden aufreißen. Salma erfuhr durch Zufall von der zweiten Frau, einen Monat vor Tareks Geburt. Basam war bei der Geburt nicht dabei, als wollte er seinem Sohn gleich vermitteln, übernimm du meine Rolle bei deiner Mutter. Tarek erlebte seinen Vater zu Hause niemals lächelnd. Für ihn war deutlich, dass der Vater nur zu ihnen kam, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Sobald er die Wohnung betrat, setzte er sein Pokerface auf, nahm auf seiner Stammcouch Platz, schaute mit unbeweglicher Miene in den Fernseher und sprach mit Salma nur das Allernotwendigste. Tarek und seinen beiden Geschwistern hielt er nur ihre schulischen Misserfolge vor. Draußen bei seinen Freunden erlebte Tarek seinen Vater als rhetorisch begabten Charmeur und begnadeten Erzähler. Den staatlichen Kanal hatte er auf die lauteste Lautstärke aufgedreht. Tarek bewunderte seine Extrovertiertheit und sein Selbstbewusstsein, er ahmte den Vater nach und benahm sich in großen Runden wie er. Wie Basam liebte er es, den Frauenhelden zu spielen. Bei Festen begeisterte Basam Verwandte und Nachbarn mit seinen Erzählungen über jene Zeit, als er noch das Büro des Vizepräsidenten leitete. Mittlerweile hatte der Vizepräsident nach Frankreich fliehen müssen und dort Asyl erhalten. Ihm wurde unterstellt, in den Achtzigerjahren deutsche und französische Bestechungsgelder angenommen zu haben, um diesen Ländern zu gestatten, Atommüll in der Wüste bei Palmyra zu vergraben. Das Büro wurde daraufhin aufgelöst, Basam und alle Mitarbeiter eineinhalb Jahre in Untersuchungshaft genommen. Auch seine attraktive Sekretärin, mittlerweile Basams zweite Frau, wurde festgenommen. Jeder Mensch, der dem Vizepräsidenten jemals die Hand gegeben hatte, wurde über sein Verhältnis zu ihm befragt. Seitdem hatte sich das Leben für Tareks Familie grundlegend verändert, sie mussten sich von ihrem Wohlstand verabschieden und lernten, mit den neuen Umständen umzugehen. Basam versuchte mehrmals, sich selbständig zu machen, aber er scheiterte jedes Mal.
Tarek dreht sich um und nimmt Salma in die Arme. »Jetzt muss ich aufbrechen«, flüstert er an ihrem Ohr. Salma protestiert: »Warum willst du jetzt schon gehen, du musst dich doch erst um 12 Uhr bei deiner Aufnahmestelle melden!«
»Ich muss mich mit Adnan und Nauras treffen, bevor ich einrücke, das habe ich ihnen versprochen«, grinst Tarek. Er ist schon seit seiner Kindheit ein begnadeter Lügner, aber bei Salma hat ihm diese Begabung noch nie genützt, sie durchschaut ihn jedes Mal. Salma grinst zweifelnd zurück. »Du willst doch diese Alawitin treffen. Dir ist es wichtiger, mit ihr Zeit zu verbringen als mit deiner Mutter«, klagt sie wie ein kleines Kind. »Sanaa heißt sie, Mama«, und das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Tarek hat keine Lust, schon wieder über dieses Thema zu diskutieren. Ihm ist bewusst, dass diese Beziehung bei seiner sunnitischen Familie unerwünscht ist. Die religiösen Gegensätze sind so groß, dass es für einen Moslem akzeptabler ist, eine Christin zu heiraten als eine Alawitin, obwohl Alawiten und Sunniten islamischen Konfessionen angehören. Sein Onkel Nisar, der in Frankreich Chemie studiert hat, hat dort eine katholische Französin geheiratet. Das wurde in der Familie mit weit weniger Aufregung zur Kenntnis genommen als Tareks Beziehung mit Sanaa. Diese religiösen Grenzen haben für Tarek kein Gewicht. Er lächelt seine Mutter wieder an. In dieser Stunde des Abschieds soll kein Unfrieden aufkommen. »Ich lasse diese schönen Augen nicht traurig werden, trinken wir noch einen Mokka zusammen.« Mit diesen Worten geht er bereits Richtung Küche. Er holt sein Mobiltelefon aus der Tasche und schreibt Sanaa, dass er sich ein bisschen verspäten wird.
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