Mary MacLane
Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Mirko Bonné und Ulrike Draesner
Reclam
Originalausgabe: Mary MacLane, I, Mary MacLane: A Diary of Human Days , Austin, Texas: Petrarca Press, 2014. (Erstausgabe 1917.)
Die Arbeit von Mirko Bonné am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: Herbert S. Stone & Company
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961917-0
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011319-6
www.reclam.de
Ich, Mary MacLane
Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben
Für M- T-
Lebendige Früchte
aus dem Verblühten Garten
Feuerkasten Marke Eigenbau
Heute
Hier in Butte-Montana bricht eine düstere Julinacht an.
Der Himmel hängt voller Wolken. Die nahen Berge sind melancholisch-grau.
Da stoße ich von Angesicht zu Angesicht auf Mich.1
Ich bin Mary MacLane: unbedeutend für die große schöne weite Welt und Mir verdammt wichtig und teuer.
Von Angesicht zu Angesicht schaue ich mich mit einer guten Portion Selbsthass an, mit Verzweiflung und gespannter Aufmerksamkeit.
Ich stecke Mich in einen Feuerkasten Marke Eigenbau und schiebe ihn in mein flammendes alltägliches geistiges Inferno. Daraus leite ich ab:
Ich bin ungewöhnlich – und in mancherlei Hinsicht unübertrefflich.
Ich bin durch und durch eine Heidin.
Ich bin eitel, trivial und verschlagen.
Ich bin ein hochspezialisiertes Wesen, zutiefst Ich.
Ich bin weiblichen Geschlechts und noch dazu fast alles, was damit einhergeht, mit ein paar weiteren pointes .2
Ich bin dynamisch, aber am Boden zerstört, eine geistige Wüste.
Ich bin wie ein Leopard, ich bin wie eine Dichterin, ich bin wie eine Nonne, und ich bin wie eine Ausgestoßene.
Ich habe einen kräftigen schrägen Sinn für Komik – eine lebensrettende und die Sitten verderbende Gabe.
Ich habe Gehirn und Gehirntätigkeit, nicht gewaltig, aber fein und von außergewöhnlicher Qualität.
Ich neige dazu, andere zu verhöhnen, und ich bin mutig.
Ich bin von schlankem Körperbau und zarter Konstitution, festfleischig und frisch.
Ich bin eine merkwürdige Närrin, eine seltsam komplizierte Lügnerin und eine spirituelle Vagabundin.
Ich bin entschieden und eigen in meiner Unaufrichtigkeit; wankelmütig, schwach und erfinderisch in meiner Wahrheit.
Ich bin mir ständig meiner selbst bewusst, darin aber ohne Falsch.
Ich bin ultramodern, sehr altmodisch: ein wandelnder Widerspruch.
Ich bin jung, aber nicht sehr jung.
Ich bin sehnsüchtig – ich bin berüchtigt.
Kurzum: Ich bin ein menschliches Wesen.
Ich bin vorausschauend und auf analytische Weise selbstbezogen, von atemberaubender, dumpfer Genialität.
Und wäre ich nicht auf so entschiedene, ermüdende Weise bei Sinnen, würde ich sagen, dass ich verrückt bin.
Nach dieser Selbstuntersuchung beginne ich dieses Buch über mich selbst, um mir in allen Einzelheiten die Frau zu zeigen, die in mir steckt. Kann sein, dass das auch einen Typus zutage fördert, etwas generell Weibliches, so alt wie Eva. Sollte dem so sein, war das nicht meine Absicht. Ich künde allein vom Ego und dem Individuum.
Wie es heimlich jeder tut, der atmet, Mann, Frau, Kind. Man fürchtet sich nur, es laut herauszuposaunen. Und kaum einer weiß, dass er dieses Lied singt. Dabei ist es das einzige, was jeder kann. Ein Bischof, der sich aufrichtig und unermüdlich im Dienst für die Armen seiner Diözese aufreibt, dient seiner starken Eitelkeit und seinem idealen Ego. Ein hungernder Bildhauer, der in seinen Träumen lebt und nur für sie, ist genauso ein Selbstherrlichkeits-Egoist wie der Bischof. Und beide sind exakt solche Selbstherrlichkeits-Egoisten wie ich.
Selbstherrlichkeits-Egoist, nicht nur Egoist, ist mein Wort. Dieses Wort, nicht das abgemilderte, ist das »geflügelte Wort«.
Aus Schimmer, Glut und Glanz ist es gemacht, dieses Ego. Ich zähle zu seinen Anhängern.
Daher schreibe ich mir dieses Buch von Mir – von Meiner Seele, Meinem Herzen, Meinem Fühlenden Körper, Meinem Zauberhaften Verstand: von ihren innersten Kräften und ihren Widersprüchen.
– in jedem Menschen gibt es ein Selbst, eines, das lebt und sein eigenes süßes, eitles, ein wenig erschreckendes Wesen treibt, nicht in der Tiefe und nicht auf den Oberflächen, sondern Gleich-Unter-Der-Haut. Es ist das Selbst, das man sich ganz allein für sich selbst hält. Es ist die Essenz der Seele und der Knochen. Es ist das Durchtriebenste und Scharfsinnigste, das der Mensch besitzt. Es ist das Einsamste: tragisch einsam. Es bedeutet endlose, endlose Eingeschlossenheit – schön, erschreckend, barbarisch, beschämend, trivial bis zum Wahnsinn, daueranwesend, für einen selbst unglaublich faszinierend, leidenschaftlich versteckt: versteckt für immer, für immer –
Mein Ziel ist es, all dies in diesem Ich-Buch zur Sprache zu bringen: nichts Tiefes, außer es steigt an die Oberfläche und berührt die Sache, nichts Oberflächliches, außer es geht unter die Haut. Nichts als das flache unscheinbare blutige Ich Gleich-Unter-der-Haut.
Ich werde daran scheitern, zum einen, weil mein Schreibtalent den delikateren Aspekten der Aufgabe nicht gewachsen ist, vor allem aber, weil ich nicht einmal mit mir selbst sonderlich ehrlich bin.
Aber ich werde darauf hinarbeiten.
Teils unvermeidbar, teils aus freien Stücken
Morgen
Teils, weil es unvermeidbar ist, teils aus freien Stücken schreibe ich nun dieses Buch.
Ungeduldig und schulterzuckend finde ich mich an einem finsteren Punkt meines Lebens, an dem ich mich ausdrücken oder mich verlieren oder zerbrechen muss.
Und so, wie ich mein Leben lebe, bin ich ziemlich allein.
Und ich bin unglücklich – ein höhnisches Unglücklichsein ganz ohne bittere, bejahende Trauer, die sich dem allesverschlingenden Luxus des Kummers hingibt, vielmehr ein Unglück aus unterdrückter Unruhe, gequält von dem Wissen, dass ich nirgends hinpasse, dass ich dahintreibe – dahintreibe –, was eine unerträgliche Furcht zur Folge hat, immer mehr Furcht, sowohl des Tags als auch in schlaflosen Nächten.
Und es aufzuschreiben nimmt mir etwas von dieser Last von den Schultern.
Und Schreiben ist, was ich am liebsten tue.
Und ich selbst bin das unmittelbarste, stärkste Thema, das ich in allem, was ich kenne, für mein Schreiben finden kann: das größte, das kleinste, das weiteste, das engste, das liebenswerteste, das abscheulichste, das bunteste, das eintönigste, das geheimnisvollste, das offensichtlichste und das eine, das mich als Schriftstellerin und als Person am weitesten bringt.
Ich schreibe Mich, wenn ich die Gedanken wiedergebe, die in mir glimmen, seien sie über den Tod, über Rosen, über Jesu Mutter oder über Nägel für zehn Cent.
Die Gedanken, die man hat, sind die entscheidenden Abenteuer. Ernsthaft und mit aller Kraft und voller Absicht darüber nachzudenken, ob man einen Mord begeht, ist in jeder Hinsicht aufregender, romantischer und in tieferem Sinn tragisch, als den Mord zu begehen.
Ich entfalte mich in verwünschten und wertvollen niedergeschriebenen Gedanken. Aus dem frechen Spiegel, den ich meinen Geist nenne, werfe ich die Spiegelbilder meiner inneren Ichs aufs Papier.
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