Unter einem dämmrig samtblauen Nachthimmel, geschmückt mit dem Geschmeide von Mond und Sternen sowie fliegenden, an den Rändern leuchtenden Wolken, gehe ich zurück. Die Nacht strahlt eine unterdrückte Kostbarkeit aus, wie eine schwangere Frau, die nicht verheiratet ist. Ganz geschwollen ist sie von ihrem Edel-Bastard, dem Morgen. Die Nachtluft küsst mir Lippen und Kehle. Ich ziehe meine Handschuhe aus, um sie auf meiner Haut zu fühlen. Sie gibt mir das entzückende, keineswegs erregende Gefühl, ohne Liebe liebkost zu werden.
Ich kehre in mein blauweißes Zimmer zurück, nehme meinen Hut ab, fahre mir mit den Fingern durchs Haar, schaue Mich im Spiegel an und lächele auf die melancholisch-bösartige Weise, die ich mir für Mich-allein aufhebe. Ein intimer Moment der Begrüßung – ich erkenne die mir Vertraute, indem ich zu ihr zurückkehre. Oft beim Spazierengehen bin ich ohne Mich unterwegs, entferne mich weit von Mir und vergesse Mich.
Dann sitze ich an meinem flachen schwarzen Schreibtisch und schreibe planlos für zwei, drei oder vier Stunden vor mich hin. Ab und an einen Brief, ab und an ein paar Verse oder eine fieberhafte Phantasie in gesetzter Prosa. Aber zurzeit hauptsächlich dies hier.
Irgendwann gehe ich hinunter zu einem Kühlschrank oder zum Abgang in den Keller auf der Suche nach etwas Essbarem – eine Scheibe freundlichen kalten Bratens, ein paar keusch dreinblickende Scheiben Brot, eine schmale unschuldige Zwiebel. Ich esse sie ohne Genuss, ich verschlinge sie und komme mir vor wie ein ranker, räubernder, verstohlener Kojote. Es ist zwei oder drei oder vier Uhr morgens. Ich lehne in der kalten nächtlichen Tür, rauche in aller Stille eine Zigarette und zähle die nervösen, grausamtigen Nachtfalter auf der anderen Seite des Fliegengitters.
Und all die Zeit denke ich nach und denke nach.
Wieder oben in meinem Zimmer setze ich mich neben dem niedrigen Bücherregal auf den Boden und lese ein paar englische Dichter des letzten Jahrhunderts, die Brownings, Shelley und den sagenhaften John Keats. Die Dichter schenken mir einen Raum, der sich dank ihrer Zauberkraft und Anmut mit Wärme füllt. Was für ein Flammenhimmel hat diese Wesen gesegnet. Irdischer Matsch hier, und ihre Flügel »durchdringen die Nacht«.7
Danach bin ich aufgekratzt müde. Ich klappe die Bücher zu und mache mich mit einer leicht poetischen Mattigkeit bettfertig. Ein leises tröstliches Aufschnappen der Korsettstangen aus Walknochen: ein dumpfes rhythmisches Enthaken des Hüftgürtels aus Metall, Gummi und Seide; ein Abstreifen der Tageskleider und ein Schlüpfen in ein dünnes blasses kühles Seidennachthemd; ein rasches Bürsten der Haare; ein Einreiben der Hände und des Halses mit einer leicht duftenden Creme; ein Gutenacht zu Mir im Spiegel; eine letzte Welle einer schicksalhaften Sache – der Essenz meines Lebens – beiläufig, entschieden, verächtlich und drohend –, die sich in einer unsichtbaren Woge über mich hermacht: und ich liege zwischen glatten Laken aus Leinen.
Zwanzig Sekunden später seliger, seliger Schlaf.
Von so großer Nichtigkeit ist mein Tag. Der eine Tag unterscheidet sich vom nächsten durch diesen oder jenen vulkanischen Maulwurfshügel. Und an manchen Tagen wasche ich nicht nur jede Menge Geschirr ab, sondern erledige auch eine ordentliche Portion Hausarbeit, gewandt und zu meiner eigenen Befriedigung, ganz die teuflische Küchenmagd.
An anderen Tagen kommen, während ich mich mit meinen so kleinen Schritten bewege, liebliche oder barbarische Gedanken und Gefühle auf und verwandeln augenblicklich das Angesicht meiner Welt.
Oder ein menschliches Wesen mit dem Gehirn eines Häschens und der Empfindsamkeit eines Backenhörnchens läuft mir über den Weg, langweilt mich sanft und führt mir nur umso deutlicher vor Augen, wie heidnisch ich bin.
Aber immer gleichen sich die Tage in ihrer rastlosen, zweifelhaften Gerichtetheit auf ein Morgen.
Immer unanständig sinnlos.
Und schaurig allein.
Rechnerisch eine blinde Wand
Morgen
Ich habe mir vorgenommen zu entscheiden, ob Gott mich liebt oder verabscheut, wenn er mich so allein in die Welt stellt.
Es gibt Zeiten, in denen meine Einsamkeit eine bezaubernde, funkelnde, findige Einsamkeit ist, aus der ein bemerkenswertes verzücktes Schimmern dringt. Das Wunder, eine Person zu sein, stürmt auf mich ein, rauscht um mich und in mich »mit Blitzen und Musik«.8
Ein Tag voller Freundschaften, und es ist weg.
Häufiger ist es ohnehin so, dass das müde, müde Herz und das matte, matte Hirn in ängstlichem, quälendem Eigentakt klopf-klopfen, klopf-klopfen. Mein Geist schließt seine Augen im wirbelnden Dämmer des sich Wunderns und etwas Wünschens und drückt seine Stirn gegen eine rechnerisch blinde Wand. Und er betet – blinde, nutzlose, alles andere als demütige Gebete, die ihn dürr und hilflos, vertrocknet, unsäglich beschränkt zurücklassen. Aber hebt er den Kopf und öffnet die Augen, sieht er, wie sich die schmelzenden Malven- und Kastanientöne einer toten Sonne quer über den Abendhimmel spannen, und entdeckt die kleinen, fernen, sehnsüchtigen Flammen der immer hoffnungsvollen Sterne.
– dank ihrer ist es weniger wichtig, ob Gott mich liebt oder nicht, aber trotzdem wüsste ich’s gern.
Mein Adretter Blauer Stuhl
Morgen
Ich nehme an, dass es nicht einmal in meinem innersten Selbst wirklich etwas Besonderes gibt unter all dem, was ich zusammengrübele, erfahre und fühle.
Meine einziges entscheidendes »Anderssein« ist, dass ich es finde und niederschreibe.
Mit achtzehn allerdings glaubte ich – diese dreifach-feurigen Heranwachsendenaugenblicke –, dass allein ich litte, dass allein ich schmerzerfüllt im Nebel tasten würde, dass allein ich die neu blühenden Lebensblütenblätter unerträglich süß und bitter auf den Lippen schmecken würde.
Die Ichzentriertheit der Jugend ist gnadenlos, maßlos, unendlich verletzlich. Das Jungsein spielt auf sich selbst, wie man auf einem kleinen Hackbrett spielt, die Melodie denkbar lieblich, doch verbunden mit einem rohen, grausamen Draufgängertum, das an den Saiten reißt, bis sie springen.
Dieses Stadium der Selbstzentriertheit habe ich hinter mir gelassen. Ich bin in ein wilderes, gesetzloseres Stadium geraten, das weitsichtiger ist, wenn auch kaum so visionär.
Während ich in diesem mitternächtlichen Butte-Montana auf einem Adretten Blauen Stuhl sitze, sitzen vermutlich zahllose andere, mir seelenverwandte Frauen einsam auf einem adretten roten, adretten grauen oder adretten wie-auch-immer-farbigen Stuhl – in Wichita-Kansas und South Bend-Indiana und Red Wing-Minnesota und Portland-Maine und Rochester-New York und Waco-Texas und La Crosse-Wisconsin und Bowling Green-Kentucky; und jede fühlt sich in einem falschen Winkel abgesetzt, gefangen in einem Netz aus kleinen, schalen Widersprüchen; jede hat gewartet, wartet, wird warten, wartet ständig – wartet ihr ganzes Leben lang –, nicht hoffnungsvoll und leidenschaftlich wie mit Achtzehn, sondern geduldig oder blasphemisch oder zornig oder vulkanisch wie mit Anfang-Dreißig – der Dauerwartezustand verleiht einer jeden die Charaktereigenschaft, umfassend, anregend und nährend zu sein – und zusammen mit ihr das seit langem gewohnte Gefühl, dass ihr eine dünne helle Schneide tief in die Brust gestoßen ist; wobei jede Waco-Texas und Portland-Maine und Red Wing-Minnesota und die anderen Orte rundweg verabscheut; und jede gequält von einem heißen unruhigen Menschsein in ihrem Inneren, einem alten Verlangen nach Sex, wobei das Blut in einem ewigen Streit mit einer Myriade peinlich genauer Grundsätze aus der Morgendämmerung der Zivilisation liegt.
Obgleich ich von dieser Gemütsart bin, bekämpfen sich in mir keinerlei kleine Grundsätze.
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