Ganz so, als hätten mich ein Prälat und eine Waldnymphe gezeugt: sie versahen mich mit einem lächerlich schmerzlichen Gewissen und mit keiner der Traditionen der Gattung Mensch.
Keinerlei angeborene Herkömmlichkeit schränkt mich ein, ich bin frei wie eine Wildkatze auf einem dämmrigen Hügel. Gerade so wie ich hier sitze und vollkommen ruhig aussehe in meinem einfachen schwarzen Kleid: frei davon. Die kraftvoll männlichen, schottisch-kanadischen Locken sind gekämmt und aus meinem Haar herausgebürstet, damit es schön glatt und unauffällig meine Ohren und meine Stirn bedeckt. Meine Nägel sind rosa poliert, spitz gefeilt. Meine engstehenden schwarzen Augenbrauen wirken in ihrer heiteren Gelassenheit fast wie die einer Patrizierin. Meine Lippen sind reglos traurig. Meine Lider senken sich, als wäre ich ein saugendes Täubchen.9 Aber meine grauen Augen unter den Lidern – hebe ich sie zum Spiegel, blickt mir der Kern meines Wesens aus ihnen entgegen, ermüdend lebendig. Er scheint aus Trägheit, Rohheit und Verzweiflung zu bestehen; zudem aus einem vagen Schuldgefühl, Elementen eines reinen zerstörerischen heidnischen Glaubens und aus Lust; sowie einem grellen Bewusstsein der alltäglichsten Dinge, einer vor sich hin glühenden Melancholie und einer flammenden Hassliebe zum Leben.
Meine grauen Augen überstarren die der Wildkatze auf dem dämmrigen Hügel.
Aber soweit die Sitzerei betroffen ist, sitze ich hier in meinem Adretten Blauen Stuhl, eben jenem, in dem sie alle sitzen, egal von welcher Farbe er ist, in ihren Wichitas und ihren La Crosses.
Morgen
Ich streife umher, ein verlorener Mensch, der umherstreift und verloren ist.
Nicht großartig verloren inmitten eines riesigen Spukwaldes, mit mächtigen schwarzgrünen Baumstämmen und Ästen überall, die einen überwältigen und in Aufregung versetzen.
Nicht dramatisch verloren zwischen öden Riffen mit Brechern, die sich über einem aufbauen wie bedrohliche Gastgeber und einen freudig ertränken.
Sondern überraschenderweise verloren in einem kleinen Dickicht schulterhoher Haselsträucher. Dort sitzen einige Waldzecken, ein paar Raupen und bleiche Spinnen, die winzige halbherzige Netze von Ästchen zu Ästchen spinnen, um sie dann zugunsten anderer Ästchen aufzugeben. Am Boden gibt es hie und da unerwartete nasse Flecken, in die ich mit meinen hohen Absätzen einsinke, was mich ärgert.
Ich gehe im Rund der Haselsträucher rund und quer und weiß, dass ich mich darin verloren habe, ohne mehr als dies zu wissen; ich habe keine Ahnung, wie ich wieder herauskommen soll.
Die Sträucher haben grüne Blätter – sie sind eher klein und krumm, weil das Gebüsch im Halbschatten auf der Rückseite eines Hügels wächst. Und sie tragen Haselnüsse, allerdings nicht sonderlich gute, mehr Schale als Nuss.
Eine fadenscheinige Verdammnis
Morgen
Ich besitze zwei schlichte schwarze Kleider, das ist alles.
Mehr brauche ich nicht.
Mit diesen beiden Sätzen sind der Kern, der Grundton und die fadenscheinige Verdammnis meines Lebens erfasst, so wie es vor mir liegt: meines Lebens, nicht meines Selbst, denn mein Selbst lebt nackt in der Arena meines Lebens.
Aber den Umfang meines äußeren Lebens bestimmen meine Zwei Schlichten Kleider. Meine Zwei Kleider zeigen an, wie weit ich mich augenblicklich entfernt finde von der weiten Welt der Dinge.
In der Welt der Dinge wird eine Frau nicht hauptsächlich nach ihrer Sittsamkeit beurteilt; nicht unweigerlich nach ihrem Ruf; nicht ausschließlich nach ihrem Vermögen; nicht zweifellos nach ihrem Sozialprestige; nur im Verhältnis zu anderen nach ihrer Schönheit, und was ihren Verstand angeht oder dessen Fehlen – lalala! In der materiellen Welt wird sie schlicht, vollständig und ausschließlich nach ihrer Kleidung beurteilt. Das ist stillschweigend so ausgemacht und beschlossen und gilt für den gesamten Erdkreis – wo auch immer Frauen weiblichen Geschlechts sind und von Männern verfolgt werden.
Aber nein, daran ist nichts ungerecht. Keiner einzigen Frau gegenüber. Es ist das gerechteste aller ungeschriebenen Gesetze.
Nur einige wenige Frauen, ein paar von besonderer Art, können ihr inneres Feuer oder die Tatsache, dass sie Menschen sind, ausdrücken, indem sie schauspielern oder sich den Suffragetten anschließen oder singen oder malen oder schreiben oder Kurse in Heilkunde oder Haushaltsführung besuchen. Aber nicht eine einzige lässt sich finden – von der herumziehenden Roma, rotblütig und starkherzig, zur überbehüteten, überzüchteten britischen Prinzessin –, die, was sie ist, nicht darin ausdrückte, welche Kleider sie trägt und wie sie es tut.
Ihre Kleidung verdeckt und enthüllt, auf kunstvolle, widersprüchliche, nie an ein Ende kommende Art.
Ein weites, weites Feld.
Kein Schauspieler könnte den Hamlet geben ohne sein perfektes hamlethaftes schwarzes Kostüm.
Das nüchterne schöne Habit einer Nonne legt nach innen und außen dar, was es bedeutet, sie zu sein.
Eine Frau kann nackt ausgesprochen rein aussehen; auf die übliche sittsame Weise gekleidet, bringt dieselbe Frau es möglichweise nur auf ein schäbiges, schauriges, abstoßendes Erscheinungsbild.
Man wird durch seine Kleider entweder gemacht oder umgebracht.
Eine Frau kann durch die Machart und den Stil ihrer Gewänder mehr von ihrem Verstand, ihrem Ich, ihrem Charakter, ihrem Gemüt, ihrer formbaren, pulsierenden Persönlichkeit zeigen, als wenn sie eine Bombe würfe, eine gute oder schlechte Nachspeise zubereitete, ihre Unschuld verlöre oder ihren Nachbarn verleumdete. Der Keim, das Schattenbild und die Wahrscheinlichkeit für jede dieser Aktionen stecken im Stil, der Form und den Details ihrer Kleidungsstücke.
Eine Jury glaubt, sie fälle ein Urteil darüber, ob eine Frau ein Verbrechen begangen hat. Einige der zwölf Gerechten geben vielleicht im stillen Kämmerlein nur vor sich selbst zu, dass sie die Frau nach ihrer Augenfarbe, der Form ihres Kinns oder den Kurven ihrer Schultern beurteilen. In Wirklichkeit aber ist es einzig die Kleidung, nach der sie unbewusst urteilen, ob sie einen Mord, Diebstahl, Betrug, oder was immer ihr vorgeworfen wird, begangen hat. Kann sein, dass ein verführerisch schäbiges Kleid sie vor dem Galgen rettet. Kann sein, dass ein Hut, der im falschen Winkel auf dem Kopf sitzt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt wird. Ein Handschuh in ihrem Schoß, ein wehender Schleier, ein kleines weißes Taschentuch, das neben ihrem Stuhl auf dem Boden liegt – das ist, wonach das Gericht entscheidet, ob sie freikommt oder ums Leben.
Aber ich spreche über Mich. Mich und meine Zwei Schlichten Kleider.
An mir machen ein elegantes Kleid oder eines, das mir nicht steht, einen überraschend großen Unterschied. Ich drücke meinem Aufzug mein gemischtes Temperament auf, und er vergilt es mir auf seine Art.
Einmal sah ich aus wie ein hübsches junges Wesen – es war in New York an einem Samstag im August –, ich trug ein für mich geschneidertes Kleid aus besticktem Leinen. Und dazu einen wunderbaren Hut: seine Farbe war ein blasses Olivgrün: sein Material war weiches Mailänder Stroh: sein Preis betrug vierzig Dollar. Meine Schuhe waren aus grauer Seide. Ich gefiel mir an dem Tag so sehr selbst, dass ich schon fürchtete, mein gesamtes Schreibtalent sei dahin. Denn Gott nimmt den Zucker weg, wenn er einem das Schlecken erlaubt. Und in unpassender Kleidung – an manchen Tagen kriecht einem das Wetter, der Teufel, die Feuchtigkeit des Lebens in die Stoffe, und noch die besten sehen dann unpassend aus – habe ich nichts als ein Durchschnittsgesicht, durchschnittlich von oben bis unten – so durchschnittlich, dass ich kaum mehr selbst an mein schurkisches Naturell glauben kann und mich halbwegs für ein braves weibliches Wesen halte.
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