Oleksij Tschupa
Märchen aus meinem Luftschutzkeller
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel Oleksij Tschupa Märchen aus meinem Luftschutzkeller Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Vorwort von Serhij Zhadan Vorwort von Serhij Zhadan Die Literatur hat fantastische Möglichkeiten, Möglichkeiten, wie sie weder die Politik noch die Geografie noch die Anthropologie haben. Der Literatur ist es zu verdanken, dass ein Leser Liebe und Zuneigung zu Orten erfahren kann, die normalerweise nicht geliebt werden, über die normalerweise gesprochen wird, ohne dass Liebe oder Bitterkeit anklingen. Märchen aus meinem Luftschutzkeller ist so ein Buch. Die Begebenheiten zeigen den ukrainischen Donbass, wie weder Politiker noch Fachleute noch Journalisten über ihn sprechen – mit einer Offenheit, die an Abscheu grenzt, und einer Bitterkeit, die aus Nostalgie erwächst. Durch die dezidierte Subjektivität des Autors und seine offene Empathie kann der Leser etwas entdecken, was in offiziellen Mitteilungen fehlt: lebendige Augen, fragmentierte Biografien und warme Stimmen, die Hoffnung geben. Das ist wichtiger als alle Geografie, denn es berührt Dinge, die in der Geografie einfach keinen Platz haben. Erinnerung und Glaube zum Beispiel.
Erdgeschoss
Wohnung 12, 13, 14
Wohnung 12 Flotter Dreier
Wohnung 13 Revolte
Wohnung 14 Gerhard Freis Jugendjahre
Erster Stock
Wohnung 15, 16, 17
Wohnung 15 Stille als Gendefekt
Wohnung 16 Träume und andere schreckliche Dinge
Wohnung 17 Die Insel
Zweiter Stock
Wohnung 18, 19, 20
Wohnung 18 Die Mutterfigur in der ukrainischen Gegenwartsliteratur
Wohnung 19 Good bye, Lenin!
Wohnung 20 Der Tag, an dem mein Sterben begann
Dritter Stock
Wohnung 21, 22, 23
Wohnung 21 July Morning
Wohnung 22 Ruh, die Blumenhändlerin
Wohnung 23 Satan und seine Freunde
Oleksij Tschupa Noch ein paar Worte aus dem Keller
Glossar
Oleksij Tschupa
Zum Autor
Impressum
Vorwort von Serhij Zhadan
Die Literatur hat fantastische Möglichkeiten, Möglichkeiten, wie sie weder die Politik noch die Geografie noch die Anthropologie haben. Der Literatur ist es zu verdanken, dass ein Leser Liebe und Zuneigung zu Orten erfahren kann, die normalerweise nicht geliebt werden, über die normalerweise gesprochen wird, ohne dass Liebe oder Bitterkeit anklingen.
Märchen aus meinem Luftschutzkeller ist so ein Buch. Die Begebenheiten zeigen den ukrainischen Donbass, wie weder Politiker noch Fachleute noch Journalisten über ihn sprechen – mit einer Offenheit, die an Abscheu grenzt, und einer Bitterkeit, die aus Nostalgie erwächst. Durch die dezidierte Subjektivität des Autors und seine offene Empathie kann der Leser etwas entdecken, was in offiziellen Mitteilungen fehlt: lebendige Augen, fragmentierte Biografien und warme Stimmen, die Hoffnung geben.
Das ist wichtiger als alle Geografie, denn es berührt Dinge, die in der Geografie einfach keinen Platz haben. Erinnerung und Glaube zum Beispiel.
Erdgeschoss
Wohnung 12, 13, 14
Wohnung 12
Flotter Dreier
Fast alles, was in der Wohnung Nummer 12 veranstaltet, gesagt, gedacht und getan wurde, fiel unter die philosophische Kategorie Nebel. Das winzig kleine und unscheinbare „fast“, mit dem die Geschichte anfängt, bezieht sich auf ein Nullachtfünfzehn-Leben, das die Bewohner der Zwölf nun wahrlich nicht führten. Das „fast“ war so klein, dass man es im Grunde genommen weglassen konnte. Und das tat ich.
Die Zwölf lag im Nebel. Trubel, Tumult, Radau, Tohuwabohu – das traf es alles nicht. Nebel. Punkt. Die anderen Hausbewohner konnten nicht erklären, wie sie auf das Wort gekommen waren. Doch tief in ihrem Unterbewusstsein schwebten – wie Wale im Ozean – traumatische Erinnerungen, dass Vira, die Kanaille aus der Zwölf, das Haus schon viermal in Brand gesetzt hatte. Das Trauma saß tief, und die anderen Bewohner assoziierten die unselige Wohnung im Erdgeschoss für alle Zeiten mit Nacht und Nebel.
Der Nebel zog vor 30 Jahren auf, unmittelbar vor der Perestroika. Er kam mit Vira Labuha ins Haus, einem Teufelsweib, das damals noch ganz passabel aussah. Vira war Anfang dreißig, hörte Heavy Metal, war mit einem Bonzen aus der Staatsanwaltschaft liiert und von aller Welt gefürchtet wie der Teufel. Wie ein Volksfeind, wäre damals wohl der ideologisch korrekte Ausdruck gewesen. Die Leute hatten solchen Schiss, dass sie sie weder anschauten noch ansprachen und einen möglichst großen Bogen um sie machten. Die Kanaille scherte sich ihrerseits um nichts und niemanden und suchte keinen Anschluss. Bei ihr schaute keiner rein und die Leute ahnten nur vage, was sich in der Wohnung abspielte, wenn sie von draußen durch die gelben Fenster schauten und die kantigen schwarzen Silhouetten von Labuha und ihren Partyfreunden sahen und die Höllenmusik hörten, die nahezu den ganzen Tag aus Viras Wohnung dröhnte.
In ihrer Wohnung herrschte das heillose Chaos. Und da Chaos weitaus widerstandsfähiger als die strengste Ordnung ist, überstand es locker solch fragile Prozesse wie die Herausbildung einer nationalen ukrainischen Identität, den Zerfall des Sowjetimperiums, mehrere Revolutionen, eine Hyperinflation und den darauffolgenden bescheidenen Aufschwung. Vira L. steckte so tief in ihrem Chaos, dass sie überhaupt nicht mitbekam, was sich in der Welt draußen vor ihren im Parterre gelegenen Fenstern abspielte.
Der letzte, der sich offen gegen die Labuha gewehrt hatte, wanderte, nachdem er die Kanaille bei der Polizei angezeigt hatte, zur Verblüffung aller wegen unerlaubten Drogenbesitzes in den Knast und wurde danach nie wieder gesehen. Irgendwann riefen die Hausbewohner nicht mal mehr die Polizei, egal wie rücksichtslos und gesetzeswidrig sich die Labuha und ihre Horde aufführten. Wenn die Streife kam und feststellte, dass es wieder Ärger mit der Zwölf gab, rieten die Polizisten den Hausbewohnern wohlmeinend, sich mit der Kanaille lieber nicht anzulegen und einfach so zu tun, als wäre sie nicht da. ‚So tun, als ob sie nicht da wäre, na, danke‘, sagten sich die Bewohner und deuteten auf Viras Tür. Drinnen wummerte Cannibal Corpse, Flaschen knallten auf den Boden, Viras höllisches Lachen dröhnte durch die Tür. Es war kurz vor Mitternacht, wie sollte man bitte schön bei diesen Schlafliedern ein Auge zu tun?
Die Kanaille konnte, obwohl sie das vielleicht gar nicht wusste, in ihrer Teufelshöhle beliebig schalten und walten. Ihren Verehrer aus der Staatsanwaltschaft, der ihr die Wohnung verschafft hatte, hatte Vira gleich einen Monat später abgeschossen, doch er hielt weiterhin die Hand über sie. Die Liebe eines Dreißigjährigen konnte, war sie einmal entfacht, bis zum Tod anhalten. Und das war hier der Fall. Dass aus dem Genossen Smirnow im Laufe der Perestroika Petro Petrowytsch geworden war – nunmehr Erster Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes – brachte den Hausbewohnern im Kampf gegen die Labuha keinerlei Vorteile. Und dass plötzlich Funktionäre aus Donezk auf hohe Posten in Kiew gehievt wurden, gab den Leuten den Rest. 2015 hatte das ganze Haus in geheimer Verschwörung gegen den Donezker Clan gestimmt und gehofft, Petro Petrowytsch würde endlich abgesetzt werden, woraufhin man die Labuha nach dreißig qualvollen Jahren endlich bei Eis und Schnee vor die Tür zu setzen gedachte. „Wenn die Alten am Ruder bleiben, hat’s uns am Arsch.“ Eleganter ließ sich die Situation nicht beschreiben.
Die Kanaille lebte ihr Leben und ignorierte alles, was sich um sie herum abspielte. Alle Verwünschungen und Verschwörungen, alle Gespräche und nächtlichen Polizeivisiten, alle Drohungen, die jemand im Erdgeschoss an die Wand geschrieben hatte, einfach alles.
Читать дальше