„Das war vor meiner Zeit.“
„Weiß ich, weiß ich doch. Worauf ich hinauswill: Seit der letzten Volkszählung sind wir viel mehr geworden. Wir machen im Prinzip den ganzen Kleinhandel, wir kontrollieren auch die Märkte, obwohl der Boden Leuten von hier gehört. Wenn wir wollten, könnten wir hier in der Region die Macht übernehmen.“
„Das hast du schon gesagt. Aber wie du das anstellen willst, möchte ich mal wissen.“
„Hier in der Region, also in unserem Oblast, leben die meisten von uns. Nach der Statistik von 2001, das heißt nach den Angaben von vor fünfzehn Jahren, sind wir achttausend. Nach meinen eigenen Berechnungen müssten wir vierzig- bis fünfzigtausend sein.“
Raschid antwortete mit einem Pfiff. Er trat vom Bildschirm zurück und lief im Zimmer auf und ab, um die Beine zu lockern. Er steckte sich eine Zigarette an und gab auch Machmed Feuer. Der Rauch stieg nach oben, ein Luftzug wehte ihn hinaus auf die Straße.
„Krass. Jetzt hab ich kapiert, worauf du hinauswillst.“
Raschids Miene änderte sich. Seine Bewegungen wurden forsch und zackig, ein gieriger Glanz trat in seine Augen.
„Ich hab’s verstanden. Wir kaufen möglichst viele Flächen und tun so, als würden wir Geschäfte bauen. Deswegen bist du auf die Märkte aus, weil die uns ja sowieso schon gehören, das fällt nicht weiter auf.“
„Genau, Raschid, ganz genau.“
Fasziniert vom Plan seines Freundes, fuhr er fort: „Und mit der offiziell genehmigten Bautätigkeit legalisieren wir unsere Landsleute, sie werden legale Arbeitnehmer.“
„In einem Land, wo die Regierung keinen Finger krumm macht, bleiben die Zahlen allerdings immer gleich …“
„Und deswegen kommen über die Wege, die wir zwei genommen haben, tausende neue Landsleute nach.“ Raschids Gedanken überschlugen sich.
„Bravo!“
Raschid tigerte durchs Zimmer, dauernd waren ihm ein Tisch, ein Stuhl oder eine Wand im Weg, aber er ignorierte das einfach.
„Und? Weißt du jetzt, wie’s dann weitergeht, du Nase?“, spornte Machmed ihn an.
„Ja! Wir können ja alle mit Waffen umgehen, seit wir klein sind. Na ja, vielleicht nicht alle, aber die meisten. Und wenn erst alle ihre Posten haben, reicht ein Signal, und wir übernehmen die Macht!“
„Perfekt, Kumpel! Ich weiß doch, was ich an dir habe. Du bist also dabei? Wir müssen mal mit denen sprechen, die schon Einfluss haben, bei dem einen oder anderen müssen wir vielleicht mit einer Extraerklärung nachhelfen, aber die meisten machen sicher gleich mit. Der Donbass gehört uns schon lange, jetzt wird’s Zeit, dass wir hier endlich offiziell an die Macht kommen.“
In diesem Augenblick knallte im Treppenhaus ein Schuss. Dann kam ein kläglicher Schrei. Schnell liefen Raschid und Machmed in die Abstellkammer neben der Küche und stürmten dann zur Wohnungstür. Beide hielten Baseballschläger in der Hand, die sie kurz zuvor auf dem Zentralen Basar gekauft hatten, Raschid hatte sich noch ein großes Messer mit einer krummen Klinge in den Gürtel geschoben.
Die beiden Männer lauerten angespannt hinter der Tür. Machmed nahm ein Blatt Papier vom Tisch und wedelte damit vor dem Spion herum, um herauszufinden, ob die Waffe auf ihre Wohnung gerichtet war. Es passierte nichts, draußen vor der eisenbeschlagenen Tür waren Stimmen zu hören.
„Was ist denn da los?“, flüsterte Raschid.
Machmed schaute ihn schweigend an und trat an den Spion. Wieder wedelte er mit dem Blatt hin und her und schaute dann vorsichtig durch das Guckloch.
Mit dem Rücken an die Tür der Nachbarwohnung gelehnt, saß da ein junger Mann in einem weißen, blutverschmierten Hemd. Über ihm hing Vira, die Kanaille, ein Gewehr geschultert, neben ihr ein Typ mit einem Beil. Machmed sah ihn manchmal beim Friseur am Busbahnhof und auf dem Markt an den Ständen mit Katzenfutter. Er hatte einen dämlichen Namen, der irgendwie kriminell klang, Koljan oder Toljan.
Toljan-Koljan reichte dem Jungen eine angebrochene Flasche Wodka, der nahm eine paar kräftige Schlucke und ächzte. Die drei redeten irgendwas, durch die Tür war allerdings nichts zu verstehen. Es sah so aus, als wollten sie den Verwundeten auf der Stelle, mitten im Treppenhaus, kaltmachen.
„Was is’n los?“, fragte Raschid wieder, diese Mal lauter.
Machmed schüttelte den Kopf, keine Panik, nichts weiter, sollte das heißen. Aber er ließ den Schauplatz nicht aus den Augen.
Für den Verletzten sah es nicht gut aus: Die drei hatten sich eine Zigarette angezündet, Labuhas Busenfreund zerrte den Arm des Jungen in die Höhe, presste ihn gegen die Wand und fuchtelte mit seinem Beil herum. Weiter passierte nichts.
„Schweine“, rief Machmed, er riss sich von dem Schauspiel los und überließ seinem Kumpel den Platz.
Raschid sah, was los war, und schaute seinen Freund fragend an.
„Was ist?“, fragte der verständnislos.
„Sollen wir den Jungen raushauen? Die gehen zu weit.“
„Gestern wär das noch was anderes gewesen. Da hätte ich die ausgelutschten Alkis in ihre Hütte zurückgescheucht. Und den Jungen ins Krankenhaus gefahren.“
„Und warum nicht heute?“
„Wir müssen uns für eine größere und wichtigere Sache schonen.“
„Stimmt, verdammt“, zischte Raschid. „Oder soll ich vielleicht doch …? Die zwei rennen doch schon weg, wenn ich nur zur Tür rausgucke!“
„Guck dir die mal an! Denen geht alles am Arsch vorbei! Die rennen nicht weg. Die Kanaille hat ein Gewehr und ihr Alter ein Beil. Lass es lieber, ich brauch dich noch.“
„Na, gut.“ Widerwillig lenkte Raschid ein, und seine Hand ließ das Messer los.
Er schaute nervös durch den Spion ins dämmrige Treppenhaus und hatte vor Wut die Fäuste geballt. Draußen stand das Finale an, alle bis auf den Jungen hatten aufgeraucht, und auch ihm blieben noch höchstens drei Züge. Der Typ fuchtelte mit seinem Fleischerbeil herum, auf dem Gesicht der Kanaille stand ein wildes, wirres Lächeln, plötzlich flog die Haustür auf, und ein paar Polizisten stürmten herein.
Raschid wich zurück und griff wieder nach seinem Messer. Die beiden tauschten ein paar angespannte Blicke, dann kehrte Raschid verunsichert zur Tür zurück. Doch das Treppenhaus war bereits leer. Er sah nur noch den Rücken der beiden Polizisten, die im hellen Viereck der Haustür verschwanden, und eine dunkle Blutlache, deren Ränder fast bis an ihre Wohnungstür heranreichten.
Alles war wieder still.
„Was war denn das?“, fragte Raschid seinen Boss.
„Was schon? Die Alte macht mal wieder Party. Wann holt die endlich der Teufel?“
Die beiden Umstürzler beruhigten sich. Um runterzukommen, machten sie sich einen Tee und rauchten eine, redeten über andere Themen und legten die Baseballschläger und das Messer zurück in die Abstellkammer. Sie liefen noch ein paar Mal zur Tür, horchten auf die Stimmen im Treppenhaus, schauten hinaus, aber dort war es ruhig.
„Also, wo waren wir stehengeblieben?“, fragte Machmed und ging zurück zum Tisch.
„Dass der Donbass uns gehören wird.“
„Eigentlich gehört er uns ja schon. Aber die formale Machtübernahme, die fehlt noch.“
„Moment mal. Alles gut und schön. Aber wozu brauchen wir den Donbass überhaupt? Was machen wir dann damit?“
„Ist doch ganz klar. Wir rufen, sagen wir mal, unsere Republik aus, dann können wir schalten und walten, wie es uns beliebt, können noch mehr Landsleuten herholen, hier ist das Klima doch angenehmer als in der alten Heimat“, erklärte Machmed.
„Die werden uns einfach vernichten. Physisch vernichten. Glaubst du nicht?“
„Nein“, sagte der Boss lächelnd. „Ich schaue mir ja immer die Nachrichten an, und deswegen weiß ich, dass sie mit Terroristen – in ihren Augen sind wir ja Terroristen – verhandeln bis zum Abwinken, und sie schießen erst, wenn alles total danebengeht. In den Verhandlungen müssen wir was rausschlagen. Uns mehr Spielraum verschaffen, als wir bislang haben.“
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