Ich schaue in meinen Spiegel. An manchen Tagen bin ich ein feingliedriges, hübsches Mädchen. An anderen Tagen eine vollkommen unscheinbare Frau.
Körperliche Anziehungskraft ist ein Ergebnis der Chemie des Gehirns.
Ich sage zu Mir im Spiegel: »Da sind ich-und-du ja wieder, Mary MacLane, und ein weiteres zehrendes vernichtendes Morgen.
Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag. «5
Dieser Morgen-Gedanke hat etwas beklemmend Dekadentes. Und Tag für Tag kommt der Morgen-Gedanke aus meinem Morgenspiegel gekrochen.
Ich verweile ein wenig bei ihm, bis meine grauen Augen, meine Lippen, meine Zähne und meine Stirn genug davon haben und ihm nichts mehr abgewinnen können.
Mit einem Ruck befördere ich die flache Muschel meines Haarschopfs auf die eine Seite der Stirn und wende mich ab. Tür und Fenster reiße ich weiter auf, damit ein paar Windstöße hindurchfegen. Und ich gehe hinunter. Es ist halb zehn oder halb elf. Ich trete in die saubere, leere Küche mit der tickenden Uhr und bereite mein Frühstück zu. Diese Aufgabe ist auf hungrige Weise erfreulich und angenehm. Ich mache ein fast schon britisches Frühstück mit Tee und Orangenmarmelade und kleinen Vierecken von Toast und rosa-braunen Streifen Schinkenspeck und zwei herrlichen Eiern. Bis zu dem Augenblick, in dem ich die Eier aufschlage, gleicht der Morgen auf uralte Weise jedem anderen Morgen. Aber Eier sind Mal um Mal, obwohl ich sie seit gut fünfundzwanzig Jahren jeden Tag esse, faszinierend neu.
Sie sind köstlich in meinem Frühstück. Ebenso wie die Toasteckchen, die Speckstreifen, der Tee und die Marmelade. Wenn ich mit ihnen fertig bin, lege ich meine Serviette neben meine Tasse, zünde eine Zigarette an, ziehe ein- oder zweimal an ihr und werde mir in aller Zufriedenheit dessen bewusst, dass mein Gehirn sich zusammen mit dem Frühstück in einen süßen Ruhezustand begeben hat. Solange mein Gehirn sich in meinem Kopf befindet, analysiert es mir noch das letzte Quäntchen Seele aus dem Körper, den Glanz aus den grauen Augen, die Würze aus dem Leben, den menschlichen Geschmack von der Zunge. Dieser Nach-Frühstücks-Augenblick ist der einzige friedliche Augenblick, der mir an meinem Tag und in meinem Leben vergönnt ist.
Nachdem ich die Zigarette geraucht und Teile der Zeitung gelesen habe, beweise ich, wie durch und durch bürgerlich ich bin, indem ich daran denke, mein Frühstücksgeschirr zu waschen.
Genau, bürgerlich, von der Seele bis in die Zehenspitze. Man sieht mir das aufs Erste nicht an – Geschmack und Ehrgeiz flitzen ja nur in verstümmelter Form und in weiten Kreisen um einen Menschen herum. Aber die Neigung, das Geschirr abzuspülen, nachdem man es zum Frühstück verwendet hat, fühlt sich eindeutig und angenehm bürgerlich an. Was nicht heißt, dass ich immer abwasche, aber immer denke ich daran und bin geneigt, es zu tun.
An einem Sommertag sitze ich mittags auf der vorderen Veranda im Schatten und schaue in die Weite nach Süden auf die blauen Highlands mit ihren ewigen Schneegipfeln: oder nach Osten auf die nahe, hoch aufragende, großartig grimme Wand der ausgedörrten Rockies, die unser Spitzkegel-Butte von New York trennt, von London – von den Schlössern Spaniens – den Pyramiden – von der Insel Lesbos: oder nach Südwesten über Hausdächer hinweg auf ein paar Ausläufer des Gebirges, über denen ein Feenschleier hängt, für den man einen Klumpen Gold und eine Aprikose miteinander verschmolzen und dünn ausgestrichen hat.
Ruhelos kehre ich ins Haus zurück und gehe in mein Zimmer. Ich bringe es in Ordnung – reine, reine makellose Ordnung. Ein ausgeprägter Teil von mir stammt von einem mutwilligen Geschöpf ab – einer Mänade,6 einer geistigen Amazone, einem weiblichen Kobold. Aber er hat eine Gegenspielerin – die Charakterzüge einer Jungfer aus Neu-England, der man mit Stahl bestimmte, grausam ordentliche Gewohnheiten angenietet hat. Ein loser Faden auf meinem blauen Teppich tut weh, tut mir weh , bis ich ihn aufhebe. Staub in meinem Zimmer fügt mir einen nervösen Schmerz zu, eine erbärmliche bohrende Betrübnis-aller-Sinne, bis ich ihn entfernt habe. Und mein züchtig aussehendes Bett – nachdem ich seine genoppte Matratze umgedreht und es ›gemacht‹ habe – glatt und weiß und frisch und weich –, wie würde jede Faser in mir sich winden, falls jemand es wagte, sich daraufzusetzen. Doch niemand setzt sich darauf. Und ich für meinen Part würde eher einen Teil meines Körpers an einen Soldaten vom Balkan verkaufen, für vier Groschen, als auch nur eine Fingerspitze in seine Vollkommenheit zu drücken: so und nicht anders sehen meine Gefühle dazu nun einmal aus. Mein Bett muss vollkommen bleiben bis zu dem Augenblick, in dem ich nachts hineinschlüpfe, um unter Traumwelten zu schweben.
Unter Umständen drücke ich mir dann einen weichen schwarzen Hut auf die Haare, streife Handschuhe über und trete für einen längeren Spaziergang hinaus auf die grau gepflasterten Straßen. Vielleicht ist es auch ein schwülheißer Tag. Dann breche ich nicht auf, sondern bleibe in dem blau-weißen Zimmer und flicke ein Stück zerrissener Wäsche, ein Taschentuch, einen Seidenstrumpf oder einen Unterrock. Oder ich greife zu einem Buch und grabe etwas Griechisches aus – Homer oder ein Fragment der Sappho –, das ist zwar recht mühselig, aber ich freue mich darüber, dass ich es überhaupt schaffe: was man in der Schule als Letztes lernte, vergisst man als Erstes wieder. Oder ich lese einen englischen oder französischen Philosophen, etwas Tolstoi in Übersetzung, ein Stück aus einem Roman von Balzac oder ein paar Passagen aus Romanen von Dickens, mit denen ich seit langem vertraut bin und die ich wirklich liebe, wegen der erholsamen Falschheit ihrer Gefühle und des stechenden, appetitanregenden Charmes ihrer Schurken.
Und in der Zwischenzeit denke ich nach und denke nach.
Dann ist es Zeit für das Abendessen, mitunter ziehe ich mir mein anderes nonnenhaftes Kleid an, nasche lustlos vom Essen und unterhalte mich mit der kleinen Familie, die sich versammelt hat, in der Tonlage und im Stil lebenslanger Unaufrichtigkeit. Im Familienkreiszustand muss ich mein wahres Selbst seit meinem zweiten Geburtstag hinter hundert schwarzen Schleiern verstecken. Der Versuch, es etwa jetzt beim familiären Abendessen zu zeigen, der einzigen Zeit, zu der alle zusammenkommen, wäre erschütternd. Wie viel einfacher ist es, während der Mahlzeiten, die ich damit verbringe, hie und da appetitlos zu kosten, umfassend unehrlich zu sein. Niemand hier sehnt sich nach meiner Aufrichtigkeit, daher steht in der Buchführung meiner Seele an dieser Stelle jetzt für immer und mit aller Entschiedenheit »Sei’s drum«. Dieses Glöckchen hat vor langer, langer Zeit aufgehört zu schlagen. Schlüge es jetzt, würde man nur »Sei’s drum« hören, »Sei’s drum«.
Schließlich ist es dunkel und ich mache den Spaziergang, der nachmittags ausfiel. Lange, einsame Straßen wandere ich hinab. Lange einsame Gedanken stapeln sich in mir aufeinander und durch mich hindurch und wickeln mich in einen Nebel, der mich wie ein Mantel umhüllt. Zwei oder drei Meilen gehe ich über gepflasterte Straßen, bis ich ganz erschöpft bin. Das ständige unwillkürliche Selbstanalysieren hat mich biegsam, aber auch zerbrechlich gemacht. Man kann seine Lebenserfahrungen und Lebensgefühle analysieren, bis die physischen Gewebe schwach werden, dünn wie Spinnweben. Dann ist es, als möchte einem – auf ein Wort, einen geflüsterten Gedanken, einen Schlag des Herzens hin – die Seele durch den Schleier entfliehen, dem Todesengel die Hand reichen und sich für immer aus dem Staub machen:
– aber ich liebe mein Leben, noch während ich es Stück um Stück auseinandernehme und es heftig verabscheue. Ich liebe es mitsamt seiner aufreibenden Eintönigkeit, seinen glanzvollen Augenblicken und seinen Tagen voller Schatten, Sturm und bitterer düsterer Leidenschaft –
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