In § 5 werden die Anknüpfungspunkte und Grenzen einer möglichen Harmonisierung des Mehrebenenkonflikts analysiert. Im Falle verbleibender Widersprüche zwischen den verfassungsrechtlichen und den unionsrechtlichen Vorgaben werden die in § 4 gewonnenen Erkenntnisse genutzt, um zu klären, inwiefern der Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Fall IR hätte durchbrochen werden können. Der Schwerpunkt liegt auf der Beantwortung der Frage, in welchem Umfang das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen der Verfassungsidentität zuzuordnen ist.
1 Stowasser, S. 377 Stichworte: „integratio“ und „integrare“; siehe auch Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl., S. 482: „Das Wort meint ursprünglich die Wiederherstellung, dann aber überhaupt die Herstellung oder Entstehung einer Einheit oder Ganzheit aus einzelnen Elementen, so daß die gewonnene Einheit mehr als die Summe der vereinigten Teile ist.“ Vgl. zur Geschichte der Verwendung des Begriffs im Staatsrecht König, Übertragung von Hoheitsakten, S. 34.
2 BVerfGE 123, 267, 350 und 353 (Lissabon); BVerfGE 140, 317, 334 Rn. 36 (Haftbefehl-II); BVerfGE 134, 366, 389 Rn. 31 (OMT-Vorlagebeschluss); BVerfGE 142, 123, 186 Rn. 115 (OMT-Urteil); BVerfGE 151, 202, 286 Rn. 119 (Bankenunion); BVerfG v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., NJW 2020, 1647, 1649 Rn. 101 (PSPP-Urteil).
3 BVerfGE 123, 267, 343 (Lissabon): „Mit der sogenannten Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Das Grundgesetz setzt damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch.“
4 Siehe König, Übertragung von Hoheitsrechten, S. 138.
5 Siehe BVerfGE 123, 267, 352 (Lissabon); BVerfGE 140, 317, 341 Rn. 49 (Haftbefehl-II); Weiß, JuS 2018, 1046, 1047 ff.; Calliess, NVwZ 2019, 684, 685 f., jeweils m.w.N.
6 Siehe etwa Wegener, VerfBlog. v. 05.05.2020. Laut Wegener offenbare das PSPP-Urteil, „[…] eine an Verschrobenheit grenzende Weltferne und Selbstüberschätzung […], von der man trotz aller gegenteiligen Anzeichen bis zum Schluss hoffen musste, sie möge dem Gericht und uns allen erspart bleiben.“ Prantl bezeichnete das BVerfG gar als „Staatsgefährder“, siehe Prantl, Süddeutsche.de v. 09.03.2020.
7 Gemeint sind die Modifikationen des staatlichen Arbeitsrechts, die der verfassungsrechtlichen Sonderstellung der Kirche Rechnung tragen, siehe auch Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, S. 1 f.
8 Siehe bspw. Müller-Volbehr, Europa und das Arbeitsrecht der Kirchen; Hanau/Thüsing, Europarecht und kirchliches Arbeitsrecht; Schäfer, Das kirchliche Arbeitsrecht in der europäischen Integration; Kehlen, Europäische Antidiskriminierung; Reichegger, Auswirkungen der RL 2000/78/EG; Triebel, Das europäische Religionsrecht; Groh, Einstellungs- und Kündigungskriterien vor dem Hintergrund des § 9 AGG; Plum, Tendenzschutz; Fink-Jamann, Antidiskriminierungsrecht; Schoenauer, Die Kirchenklausel des § 9 AGG.
9 BVerfGE 70, 138, 167 f. (Stern).
10 BVerfGE 137, 273, 316 Rn. 118 f. (Chefarzt).
11 Siehe etwa Fremuth, EuZW 2018, 723, 723 f.; Geismann, Gleichgeschlechtliche Ehe und kirchliches Arbeitsverhältnis, S. 42; Trebeck, ArbRAktuell 2020, 106. Die Bezeichnung ist allerdings irreführend, denn die Vielzahl der den Kirchen zugeordneten Einrichtungen kann schwerlich als „ein“ Arbeitgeber betrachtet werden, siehe auch Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 8. Aufl., Vorwort S. IX.
12 EuGH (Große Kammer) v. 17.04.2018 – C-414/16 (Egenberger gegen Evang. Diakonie e.V.), EU:C:2018:257.
13 EuGH (Große Kammer) v. 11.09.2018 – C-68/17 (IR gegen JQ), ECLI:EU:C:2018:696.
14 ABl. EG L 303/16.
15 EuGH (Große Kammer) v. 17.04.2018 – C-414/16 (Egenberger gegen Evang. Diakonie e.V.), EU:C:2018:257 Rn. 63 ff.; EuGH (Große Kammer) v. 11.09.2018 – C-68/17 (IR gegen JQ), ECLI:EU:C:2018:696 Rn. 45 f.
16 BAG v. 25.10.2018 – 8 AZR 501/14, NZA 2019, 455; BAG v. 20.02.2019 – 2 AZR 746/14, NZA 2019, 901.
17 Siehe Pressemitteilung der EKD-Präsidentin v. 19.03.2019, abrufbar unter: https://www.ekd.de/diakonie-klagt-vor-bundesarbeitsgericht-44274.htm(zuletzt aufgerufen am 21.12.2020).
18 Siehe Pressemitteilung vom 02.07.2019, abrufbar unter: https://www.erzbistum-koeln.de/news/Keine-Verfassungsbeschwerde-im-Chefarzt-Fall/(zuletzt aufgerufen am 21.12.2020): „Maßgeblich hierfür ist insbesondere der Umstand, dass der in Rede stehende Fall aktuell keine arbeitsrechtliche Relevanz mehr hat, da er nach heute geltendem kirchlichen Arbeitsrecht anders zu beurteilen wäre. Die katholische Kirche wird allerdings möglicherweise vom Bundesverfassungsgericht Gelegenheit erhalten, ihre Rechtsauffassung zu den auch aus ihrer Sicht klärungsbedürftigen Grundsatzfragen des Verhältnisses von Religionsverfassungsrecht und Unionsrecht durch eine Stellungnahme in das Verfahren ‚Egenberger‘ der evangelischen Kirche einzubringen, das zurzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist.“
19 Siehe Deutsche Bischofskonferenz, Katholische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten 2019/20, abrufbar unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/Zahlen%20und%20Fakten/Kirchliche%20Statistik/Allgemein_-_Zahlen_und_Fakten/AH-315-ZuF_2019-2020_Ansicht.pdf(zuletzt abgerufen am 21.12.2020); Diakonie Deutschland, Diakonietexte April 2017, Einrichtungsstatistik für das Jahr 2018, abrufbar unter: https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Statistiken_PDF/09_2019_Einrichtungsstatistik_2019_Web.pdf(zuletzt abgerufen am 21.12.2020).
20 Für die Zulassung einer auf die Verletzung der Verfassungsidentität gestützten Verfassungsbeschwerde im Fall IR siehe Fremuth, EuZW 2018, 723, 730; Thüsing/Mathy, BB 2018, 2805, 2808; W. Kahl, ZevKR 65 (2020), 107, 133 ff.; ablehnend BAG v. 20.02.2019 – 2 AZR 746/14, NZA 2019, 901, 911 Rn. 67; Classen, EuR 2018, 752, 565; Malorny, npoR 2020, 56, 59 f.; Becker, EuR 2019, 469, 497; Nebeling/Lankes, RdA 2020, 101, 109; speziell in Bezug auf die Verfassungsbeschwerde in der Rechtssache Egenberger siehe Sagan, EuZW 2018, 381, 387; Klocke/Wolters, BB 2018, 1460, 1464; Thüsing/Mathy, RIW 2018, 559, 561 f.; Pieroth/Barczak, NJOZ 2019, 1649, 1653 f.
21 Thüsing/Mathy, RIW 2018, 559, 561.
§ 2 Grundlagen und Grenzen des Selbstbestimmungsrechts kirchlicher Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland
A. Die Verankerung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV
Das Selbstbestimmungsrecht 22der Kirche hat im Jahr 1919 Eingang in die WRV gefunden. 23In Art. 137 Abs. 3 WRV heißt es: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“
Das in der WRV normierte Selbstbestimmungsrecht, die „Magna charta libertatis“ 24der Kirche, ist durch die „Inkorporation“ 25des Art. 137 Abs. 3 WRV über Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes geworden. Es handelt sich bei den Übergangs- und Schlussvorschriften ungeachtet ihrer systematischen Verortung um „vollgültiges Verfassungsrecht“ 26, welches zusammen mit Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG das „Fundament“ 27des deutschen Religionsverfassungsrechts 28bildet. Ergänzt wird dieses Fundament durch den Schutz vor (Un-)Gleichbehandlung gem. Art. 3 Abs. 3 GG sowie Art. 33 Abs. 3 GG. In Bezug auf den Religionsunterricht an staatlichen Schulen bestehen ferner Sonderregelungen in Art. 7 Abs. 2 und Abs. 3 GG sowie die Ausnahmeregelung des Art. 141 GG, die sog. „Bremer Klausel“ 29.
Читать дальше