1 ...6 7 8 10 11 12 ...34 Auf der Ebene des Rechts der Europäischen Union entfaltet die EMRK hingegen bislang mangels Inkorporation (noch) 96keine unmittelbare Wirkung. 97Doch nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Daraus folgt ihr Status als Rechtserkenntnisquelle. 98Entsprechend hat sich der EuGH in der Vergangenheit häufig auf die EMRK bezogen und dabei auch die Rechtsprechung des EGMR zugrunde gelegt. 99Im Sinne einer Reziprozität zieht auch der EGMR zuweilen die Rechtsprechung des EuGH heran. 100Seit dem Inkrafttreten der europäischen Grundrechtecharta dürfte die EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR allerdings in ihrer Bedeutung als Erkenntnisquelle für europäisches Recht dezimiert worden sein. 101
a) Relevante Grundrechtspositionen kirchlicher Arbeitnehmer
Insbesondere im Zusammenhang mit der Personalauswahl und bei der Kündigung aufgrund eines Loyalitätsobliegenheitsverstoßes kann es zum Konflikt mit den aus der EMRK folgenden Grundrechten der kirchlichen Arbeitnehmer kommen. Die größte Relevanz kommt insofern dem Schutz des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und der individuellen Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK zu. Zur Wahrung eines angemessenen Darstellungsumfangs wird nachfolgend auf die Erörterung der in diesem Zusammenhang durchaus auch bedeutsamen Gewährleistungen der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK), des Rechts auf Eheschließung (Art 12 EMRK) sowie des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) verzichtet. 102
aa) Der Schutz des Privat- und Familienlebens, Art. 8 EMRK
Infolge seines weitreichenden Schutzbereichs kann Art. 8 EMRK als das ganz zentrale Grundrecht zum Schutz insbesondere auch von Arbeitnehmern angesehen werden. Neben dem Schutz des Einzelnen vor staatlichen Eingriffen beinhaltet es auch die Gewährleistungspflicht ( positive obligation ) 103eines Konventionsstaates, die Rechte eines Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens gegenüber seinem Arbeitgeber zu schützen. 104Dabei wird der große Anwendungsbereich insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens bereits durch seine Auffangfunktion deutlich. 105Eine Definition des Begriffs hat der EGMR allerdings nicht vorgenommen, da dies weder möglich noch notwendig sei. 106Anknüpfungspunkt der Garantie ist jedenfalls die Autonomie des Individuums und sein Recht auf Selbstbestimmung. 107Demzufolge ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR jedenfalls auch der innere Bereich der Persönlichkeitssphäre bis hin zum Sexualleben und der sexuellen Orientierung geschützt. 108Auch der Begriff des Familienlebens ist weit zu verstehen: Über die eheliche Verbindung hinaus sind auch nichteheliche Lebensgemeinschaften vom Schutzbereich erfasst. 109Besteht eine derartige Verbindung, werden die Familienmitglieder darin geschützt, ihr Leben miteinander zu führen und persönlichen Kontakt zueinander halten zu können. 110
Insofern wird bereits durch einen kurzen Aufriss des Schutzumfangs von Art. 8 EMRK deutlich, dass nachteilige Maßnahmen gegenüber einem kirchlichen Arbeitnehmer aufgrund dessen sexueller Orientierung, wegen einer außer- oder unehelichen Beziehung oder einer Wiederheirat nach Scheidung den Schutzbereich von Art. 8 EMRK verletzen können. 111
bb) Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Art. 9 EMRK
Eine große Bedeutung für kirchliche Arbeitsverhältnisse erlangt freilich auch die individuelle Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK. Sie schützt die innere Überzeugung einer Person und das Annehmen einer Religion ( forum internum ), deren Bekenntnis bzw. Ausübung nach außen ( forum externum ), als auch die negative Religionsfreiheit. 112Insofern weist die Gewährleistung ganz erhebliche Übereinstimmungen mit dem Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1, 2 GG auf. 113Demnach kann auch weitestgehend auf das entsprechende deutsche Grundrechtsverständnis zurückgegriffen werden, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter anderem infolge ihrer im Grundgesetz vorbehaltlosen Gewährleistung meist ein höherer Stellenwert als durch den EGMR beigemessen wird. 114
Wie im Rahmen von Art. 8 EMRK verpflichtet auch die Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK den Staat zu positivem Schutz. 115Dementsprechend ist die Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK eröffnet, sofern ein kirchlicher Arbeitnehmer arbeitsrechtlichen Sanktionen aufgrund seines Kirchenaustritts oder wegen des Werbens für eine andere Religionsgemeinschaft ausgesetzt ist. 116Dies gilt freilich auch, wenn einem Bewerber aus den gleichen Gründen eine Einstellung versagt wird.
b) Die durch Art. 9 EMRK vermittelte Rechtsposition der Kirchen
Die konventionsrechtliche Etablierung einer Rechtsposition der Kirchen im Sinne einer korporativen Religionsfreiheit findet in Art. 9 EMRK ihren einzigen denkbaren Anknüpfungspunkt. Dabei ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, dass die Stellung der Kirchen in den einzelnen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten erheblich divergiert und bereits aus diesem Grund eine umfassende, vereinheitlichende Regelung ihres grundrechtlichen Status zugleich das institutionelle Verhältnis von Staat und Kirche beeinflusst hätte. 117Infolgedessen fällt bereits bei einer nur oberflächlichen Betrachtung der Gewährleistung des Art. 9 EMRK 118auf, dass dessen Wortlaut keine explizite Garantie korporativer Religionsfreiheit enthält. 119Dennoch hat bereits die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) anerkannt, dass auch eine Religionsgemeinschaft eigene Rechte aus der Gewährleistung im Zusammenspiel mit Art. 34 EMRK geltend machen kann. 120Trotz jener Zuerkennung einer Klagebefugnis (sog. „ victim -Status“) sowie einer eigenen Grundrechtsfähigkeit war aber für lange Zeit unklar, ob und in welcher Form ein kirchliches Selbstbestimmungsrecht vom kollektiven Aspekt der konventionsrechtlichen Religionsfreiheit umfasst ist. 121
Spätestens 122durch die wegweisende Entscheidung in der Sache Hasan und Chaush/Bulgarien hat der EGMR aber die grundlegende Autonomie von Religionsgemeinschaften gegenüber staatlichen Eingriffen anerkannt. 123Diese Ergänzung der Gewährleistung um ein korporatives Element entspricht auch der einhelligen Auffassung im Schrifttum. 124Nach Ansicht des EGMR begründe das Recht auf Religionsfreiheit die legitime Erwartung, „dass die Religionsgemeinschaft friedlich und frei von willkürlicher staatlicher Einmischung operieren dürfe“. 125Dies folge auch aus einer Auslegung des Grundrechts im Lichte der Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 EMRK. 126Ferner findet sich in den einschlägigen Urteilen die elementare Feststellung, dass die Autonomie von Religionsgemeinschaften unverzichtbar sei für das Ziel der Konvention, den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft zu sichern und diese daher zum Wesensgehalt von Art. 9 EMRK gehöre. 127Dennoch legte der EGMR den Schutzbereich – wohl auch infolge der individualrechtlichen Konzeption der Gewährleistung – zunächst eher eng aus und beschränkte ihn auf einen Kernbereich kirchlicher Angelegenheiten. Entsprechend habe das Selbstbestimmungsrecht vor allen Dingen etwa das Recht der Religionsgemeinschaften zur Folge, ihr Führungspersonal und ihre Geistlichen eigenständig zu berufen, sowie eigene Wahlen abzuhalten. 128Erst in jüngerer Zeit anerkannte der EGMR im Zusammenhang der Überprüfung von Judikaten deutscher Gerichte zum kirchlichen Arbeitsrecht, dass ebenso auch die Freiheit der Kirchen, ihre dienst- und arbeitsrechtlichen Angelegenheiten selbstbestimmt an den eigenen Glaubensüberzeugungen auszurichten, von Art. 9 EMRK umfasst sei. 129Damit hat der EGMR den wesentlichen Schritt vollzogen, damit auch ein Recht auf ein spezifisch kirchliches Arbeitsrecht seine Grundlage in der Menschenrechtskonvention finden kann.
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