Dementsprechend kann die materielle Reichweite des Kirchenprivilegs aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie nicht als allgemeingültiger europäischer Standard ausgelegt werden, sondern ist vielmehr in Relation zu den einzelstaatlichen Rechtstraditionen zu ermitteln. 220Somit handelt es sich bei ihr in partieller Abweichung vom Grundprinzip der Rechtsharmonisierung um eine variable Ausnahmeregelung, die in Bezug auf das besonders geschützte Gebiet des Staatskirchenrechts Raum für nationale Spezifika lässt. Dies gilt gegenwärtig ohnehin vor dem Hintergrund der primärrechtlichen Regelung des Art. 17 Abs. 1 AEUV. Das darin verankerte Beeinträchtigungsverbot des nationalstaatlichen Status der Kirchen verpflichtet den EuGH, eine derartige staatskirchenrechtlich relevante Vorschrift unter Berücksichtigung der spezifischen mitgliedstaatlichen verfassungsrechtlich gewährleisteten kirchlichen Privilegien auszulegen und somit den Grundsatz der einheitlichen Auslegung zu durchbrechen. 221
In Anbetracht dessen ergibt sich für den nationalen Gesetzgeber auch ein erweiterter Umsetzungsspielraum. Wird die Unionsrechtskonformität von mitgliedstaatlichen Regelungen bezweifelt, die in Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG entstanden sind, so ist dieser durch Art. 17 Abs. 1 AEUV eröffnete Spielraum bei deren Rechtmäßigkeitsprüfung zwingend zu beachten.
17 Thüsing , Kirchliches Arbeitsrecht, 1; so auch v. Campenhausen/Unruh , in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 137 WRV Rn. 78.
18 Richardi , Arbeitsrecht in der Kirche, 2019.
19 Zitiert nach Richardi , NZA 2015, 1481; ders ., Arbeitsrecht in der Kirche, § 4 Rn. 31; vgl. dazu auch Eder , ZTR 2013, 119. Zu can. 231 § 2 CIC, demzufolge bei der Beschäftigung von Laien auch das weltliche Recht zu beachten ist, vgl. Overbeck , in: Essener Gespräche 46 (2012), 7 (11). Aus Perspektive der französischen Rechtslehre siehe auch Bamberg/Schlick , in: Le droit du travail dans les églises, 9 (12 f.).
20 Richardi , Diskussionsbeitrag in: Essener Gespräche 46 (2012), 27.
21 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet und auf die gleichzeitige Nennung der maskulinen und femininen Substantivvarianten verzichtet. Jegliche Personenbezeichnungen umfassen daher beide Geschlechter.
22 Umfassend dazu Richardi , Arbeitsrecht in der Kirche, § 1 Rn. 17 ff.; Keßler , Die Kirchen und das Arbeitsrecht, 33; Thiel , Kleines Kompendium zum kirchlichen Arbeitsrecht, 1 f.
23 Fuhrmann , ZAT 2015, 145 (148), misst dem kirchlichen Arbeitsrecht in diesem Sinne eine „Zwitterstellung“ bei.
24 Ausführlich dazu unter Zweiter Teil A.III. 1. a).
25 In Österreich kommt dies durch die Übernahme des Leitbilds der kirchlichen Dienstgemeinschaft innerhalb der Rechtslehre zum Ausdruck, vgl. dazu statt vieler Runggaldier , in: Arbeitsrecht und Kirche, 145 (150 und 156). Auch in England ist das besondere Wesen des kirchlichen Dienstes anerkannt, vgl. Calvert/Hart , Law & Justice 2000, 4 (18); Ahdar/Leigh , Religious Freedom in the Liberal State, 339 und 373 f. In Frankreich wird kirchlichen Einrichtungen ein sogenannter caractère propre zuerkannt, siehe exemplarisch nur die Entscheidung des Conseil d’État: CE, 20.07.1990, Dr. soc. 1990, 865; als Ausdruck dessen werden kirchliche Betriebe als sogenannte „ entreprises de tendance “ begriffen, siehe statt aller Riassetto , in: Droit français des religions, Rn. 1820 (1881).
26 So etwa im Fall der kirchlichen Mitarbeitervertretungsordnungen, die das deutsche Betriebsverfassungsrecht ersetzen, siehe dazu unter Zweiter Teil A.III. 3. a) bb).
27 Ehlers , in: Sachs, Art. 140 GG Rn. 5; Mückl , in: HStR VII, § 159 Rn. 1; aus der österreichischen Rechtslehre Gampl , Leitfaden Staatskirchenrecht, 1.
28 Hense , in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 9 (42), spricht von einer „Schieflage“ zugunsten der Kirchen; auf eine „Missverständlichkeit“ weist hin Pree , Österreichisches Staatskirchenrecht, 1; ähnlich auch Unruh , Religionsverfassungsrecht, Rn. 5.
29 Heinig , Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, 497.
30 So z.B. bei Walter , Religionsverfassungsrecht, 200 f.; Unruh , Religionsverfassungsrecht, Rn. 4 ff.; Hense , in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 9 (39 ff.); Czermak , Religions- und Weltanschauungsrecht, Rn. 26 f. Vgl. dazu auch den Tagungsband Heinig/Walter (Hg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?.
31 Für einen fortgesetzten Gebrauch des Begriffs Staatskirchenrecht plädieren überzeugend bspw. Waldhoff , in: Essener Gespräche 42 (2008), 55 (81 ff.); Mückl , in: HStR VII, § 159 Rn. 3 f.; v. Campenhausen , Staatskirchenrecht, 39 f.
32 Vgl. Neureither , NVwZ 2011, 1492 (1497).
33 Waldhoff , in: Essener Gespräche 42 (2008), 55 (80).
34 Ausdrücklich für eine Verwendung des Begriffs in diesem Kontext Mückl , Europäisierung des Staatskirchenrechts, 54 f. Dagegen plädieren für eine Verwendung des Begriffs „Religionsverfassungsrecht“ in diesem Zusammenhang Hense , in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 9 (41); Vachek , Das Religionsrecht der Europäischen Union, 16.
35 Nachweise bei Messner , in: Droit français des religions, Rn. 5 (8).
36 Nachweise bei Sandberg , Law and Religion, 7 ff.
37 Siehe nur die Lehrbücher von Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1971; Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1984; Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1992.
38 Darauf verweisen auch Hense , in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 9 (41); Mückl , Europäisierung des Staatskirchenrechts, 55.
39 Den Begriff des „Staatskirchenrechts“ erachten als unzureichend oder irreführend etwa Spielbüchler , ÖAKR 39 (1990), 24; Schinkele , öarr 57 (2010), 180 (181); a.A. Pabel , in: FS Korinek, 223 (224). Von einer Hinwendung zum Begriff „Religionsrecht“ zeugen die Lehrbücher von Kalb/Potz/Schinkele , Religionsrecht, 2003; Potz/Schinkele , Religionsrecht im Überblick, 2005.
40 Die Titel der Lehrbücher zum Staatskirchenrecht stellen zunehmend die Religionsgemeinschaften in den Vordergrund, vgl. Boyer , Le droit des religions en France, 1993; Volff , Le droit des cultes, 2005; Delsol/Garay/Tawil , Droit des cultes, 2005. Ein Plädoyer für eine Verwendung des Begriffs „ droit des religions “ findet sich bei Messner , in: Droit français des religions, Rn. 5 (10 ff.).
41 Davon zeugen die zahlreichen Aufsatzsammlungen unter dem Titel „ Law and Religion “, wie etwa Ahdar , Law and Religion, 2000; O’Dair/Lewis , Law and Religion, 2001; Doe/Sandberg , Law and Religion: New Horizons, 2010. Für eine Verwendung des Begriffes „ religion law “, siehe Sandberg , Law and Religion, 7 ff.
42 Robbers , VVDStRL 59 (2000), 231 (245 f.); McClean , in: Staat und Kirche in der Europäischen Union, 603; Heintzen , in: FS Listl, 29 (42); Mückl , Europäisierung des Staatskirchenrechts, 78. Eine Darstellung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in Schottland, Wales und Nordirland findet sich bei McClean , in: Trennung von Staat und Kirche, 13 (16 ff.).
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