Szabla, Malgorzata/Blommaert, Jan (2018). Does context really collapse in social media interaction? Applied Linguistics Review Ahead of Print . DOI: https://doi.org/10.1515/applirev-2017–0119.
Zur technikgestützten Translationskultur im DACH-Raum
Video- und audiobasiertes Dialogdolmetschen im Gesundheits- und Gerichtswesen
Ivana Havelka
Abstract: Die Translationskultur im DACH-RAUM wurde in den letzten Jahrzehnten grundlegend durch die Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt. Die technikgestützte interpersonale Kommunikation schafft nachhaltig neue translatorische Betätigungsfelder und eine noch nie dagewesene Vielfalt an Dolmetschformen. Der folgende Artikel hat zum Ziel, die technikgestützte Translationskultur im DACH-Raum zu beschreiben. Zunächst veranschaulicht eine Synthese der Grundsätze der technikgestützten Dolmetschung den hochkomplexen translatorischen Handlungsrahmen aus der Ferne. Abschließend wird im Ländervergleich die audio- und videobasierte Translationskultur umrissen.
Ereignisse wie wirtschaftliche Krisen und gesellschaftliche Umbrüche sind die treibende Kraft des technischen Wandels TechnologieWandelbeim Dolmetschen. Fantinuoli (2018b) nennt in Bezug auf die Dolmetschpraxis folgende Meilensteine: 1) die Etablierung der Simultandolmetschanlagen nach den Nürnberger Prozessen, 2) Kommunikation und Austausch über das Internet, 3) Entwicklung technikgestützter Dolmetschformen sowie dolmetschrelevanter Technik – Computer-assisted interpreting tools (CAI-Tools). Im Zuge der dynamischen Entwicklungen der letzten fünf Jahre können zwei weitere geopolitische Ereignisse, die den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in der interpersonalen Kommunikation deutlich verstärkt haben, hervorgehoben werden. Zum einen wurde die Sprachenlandschaft durch starke Migrationsströme in den Jahren 2015 und 2016 geprägt1. Zum anderen hat die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung, verursacht durch die weltweite Covid-19-Pandemie, gezeigt, wie die Kommunikationskultur maßgeblich verändert werden kann. Aufgrund der Ansteckungsgefahr durch das Virus wurde im DACH-Raum in Einrichtungen des Gerichts-, Sozial- und teilweise auch Gesundheitswesens zunehmend das Ferndolmetschen als Alternative zum Dolmetschen vor Ort eingesetzt.
Als einer der Wegbereiter der allgemeinen Translationstheorie stellte bereits Kade fest, dass aufgrund des kontinuierlich steigenden Bedarfs an Sprachmittlung eine „Intensivierung und Effektivierung“ (Kade 1980:10) des Angebots notwendig ist, die unter anderem mit der „Schaffung praxisgerechter und praxiswirksamer Hilfsmittel bis hin zu automatischen Übersetzungshilfen“ (Kade 1980:11) zu bewältigen ist. Trotz großem Interesse seitens der Auftraggeber:innen war lange Zeit der Einsatz von FerndolmetschtechnikFerndolmetschen für Dolmetscher:innen nicht vorstellbar (vgl. Mouzourakis 2003). Jüngste Entwicklungen brachten aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung der Dolmetschpraxis eine Vielfalt an technikgestützten Dolmetschformen hervor. Hiervon umfasst sind sowohl dolmetschrelevante Arbeitsprozesse in der Vor- und Nachbereitung unterstützt durch CAI Tools (vgl. Kalina & Ziegler 2015, Fantinuoli 2018a) als auch die Wiedergabe des Ausgangstextes per Video oder Audio aus der Ferne (vgl. Braun & Taylor 2012), die schriftliche Wiedergabe eines gesprochenen Textes beim Schriftdolmetschen (vgl. Platter 2019) oder als Live-Untertitelung mittels automatischer Spracherkennung (vgl. Romero-Fresco 2019). Selbst die Dolmetschausbildung ist auf den Technikeinsatz angewiesen. Mit der allgemeinen Digitalisierung nehmen TerminologiedatenbankenTechnologieprozessorientierte Technologie, digitale Notizengeräte und andere Hilfsgeräte eine immer größere Rolle in der Dolmetschausbildung und -praxis ein. Schließlich ist auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz beim maschinellen Dolmetschen als technikgestützte Dolmetschform zu nennen.
2 Grundsätze der technikgestützten Dolmetschung
Mit dem zunehmenden Einsatz der Ferndolmetschformen ist eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Unterschieden zwischen den verschiedenen Ausführungsarten erforderlich. Das video- oder telefonbasierteTechnologiesettingorientierte Technologie bidirektionale Dolmetschen verlangt aufgrund der technikbedingten Realisierungsform gezielte und auf die jeweils eingesetzte Technik angepasste Dolmetschstrategien. Im Vergleich zum Dolmetschen vor Ort können für das audio- und videobasierte Dolmetschen folgende vier Grundsätze vorgeschlagen werden (Havelka 2020).
Grundsatz: Anders als vor Ort
Als kommunikative Handlung ist das Dolmetschen an die Realisierungsbedingungen des eingesetzten Kommunikationsmediums gebunden. Die technisch bedingte interpersonale Kommunikation unterliegt anderen Gegebenheiten als jenen vor Ort (vgl. Friebel et al. 2003:4). Hierbei ist unter anderem der Einsatz von nonverbaler Kommunikation und Backchannel-Signalen als Feedback zur Wahrnehmungsbereitschaft zu nennen (vgl. Havelka 2018b:114). Demzufolge ist das Dolmetschen aus der Ferne als eine eigene Dolmetschform zu verstehen.
Grundsatz: Digitale Kompetenzen
Digitale KompetenzenKompetenzendigitale Kompetenzen stellen einen Bestandteil des ganzheitlichen Dolmetschkompetenzmodells (vgl. Kadrić 2011) dar. Beim Dolmetschen aus der Ferne, z.B. audio- und videobasiertem Dolmetschen, werden die Anforderungen an die digitalen Kompetenzen von Dolmetschenden deutlich erweitert (vgl. Havelka 2019b: 170). Um die dolmetschrelevanten digitalen Kompetenzen zu erfassen, kann der Referenzrahmen für Digitale Kompetenzen (DigComp) der Europäischen Union (2018) herangezogen werden, der grundsätzlich aus fünf Kompetenzbereichen besteht: Informations- und Datenkompetenz, Kommunikation und Kooperation, Erstellung digitaler Inhalte, Sicherheit und Problemlösung. In Bezug auf das Dolmetschen mit IKT sind die genannten Kompetenzbereiche auf folgende Weise zu verstehen:
Informations- und DatenkompetenzDie terminologische Vorbereitung ist vor jedem Dolmetschauftrag unumgänglich. Dieser Kompetenzbereich umfasst jene Fähigkeiten, die eine auftragsbezogene Internetrecherche zur Terminologie, das Filtern, das Auswählen von relevanten Hintergrundinformationen sowie das Speichern und Verwalten der Terminologie ermöglichen.
Kommunikation und KooperationDer technikgestützte Austausch, die digitale Zusammenarbeit und Nutzung von IKT für die audio- und videobasierte Dolmetschung sind von diesem Kompetenzbereich umfasst. Grundlegend sind hierbei der Einsatz technikbedingter Dolmetschstrategien sowie eine an die eingesetzte Technik angepasste Vorgehensweise.
Erstellung digitaler InhalteAnders als bei einer Dolmetschung vor Ort entstehen durch die audio- und videobasierte Dolmetschung neue digitale Inhalte, die über digitale Wege verbreitet werden können. Der Umgang mit auditiven und visuellen Daten ist in diesem Kompetenzbereich zentral.
SicherheitDie geltenden Datenschutzbestimmungen in Hinblick auf die Datensicherheit von Geräten und den DatenschutzDatenschutz von Inhalten und personenbezogenen Daten und auch auf den Schutz des sozialen, physischen und psychischen WohlbefindensFerndolmetschendigital wellbeing (engl. digital wellbeing ) sind von diesem Kompetenzrahmen umfasst.
ProblemlösungDer Kompetenzbereich Problemlösung umfasst sowohl die Lösung von technischen Problemen als auch den kreativen Einsatz von technikgestützten Lösungen im Dolmetschprozess.
Grundsatz: Wahrnehmung
Die RealisierungsbedingungenFerndolmetschenRealisierungsbedingungen der audio- und videobasierten Gesprächssituation sind grundlegend von den jeweiligen technikbedingten Wahrnehmungsmöglichkeiten abhängig. Die Wahrnehmung erfolgt in der Gesprächssituation über zwei Informationsquellen: die auditive und die visuelle Informationsquelle. Situative Hinweise werden durch den Kontext der Dolmetschung generiert. Auditive, visuelle und situative Hinweise aus der technikgestützten Gesprächssituation können getrennt voneinander oder als ganzheitliches Phänomen auf den translatorischen Handlungsauftrag umgelegt werden. Die hier zum Tragen kommende referentielle Kompetenz ist als eine metakommunikative Kompetenz zu verstehen (vgl. Havelka 2018b: 158ff.).
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