Kathrin Hanke - Als die Flut kam

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In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 bricht die Sturmflut über Hamburg ein. In der Stadt herrscht das Chaos und es sind viele Helfer unterwegs. Der Wilhelmsburger Johannes Becker nutzt die Katastrophe jedoch für seine eigenen Zwecke: Er bringt die Nachbarstochter Anne, in die er seit Jahren unerwidert verliebt ist, in seine Gewalt. Anne stirbt und nur Beckers Freund, Kommissar Peter Lüders, ahnt, dass die junge Frau nicht durch die Flut umgekommen ist. Lüders beginnt im Alleingang zu ermitteln und dringt dabei in menschliche Abgründe vor.

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Kathrin Hanke

Als die Flut kam

Hamburg-Krimi

Impressum Personen und Handlung sind frei erfunden Ähnlichkeiten mit lebenden - фото 1

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Museum Elbinsel Wilhelmsburg e.V.

ISBN 978-3-8392-6860-5

Zitat

»Anderen kannst du oft entfliehen, dir selbst nie.«

(Publilius Syrus)

Prolog

April 1945, Vormittags

Er saß hinter dem Busch. Eigentlich hatte seine Mutter ihn und die Großen losgeschickt, Löwenzahn zu rupfen. »Husch, husch, raus mit euch. Sucht auf den Wiesen Löwenzahnblätter, damit wir mal wieder etwas Frisches zwischen die Zähne bekommen«, hatte sie gesagt und jedem von ihnen eine Blechschüssel in die Hand gedrückt. Seine Schwester Magda und sein Bruder Helmut waren sofort losgestürmt. Auch er war aus der kleinen Laube, in der sie lebten, hinausgegangen, aber nicht gelaufen. Die Großen ärgerten ihn sowieso nur, wenn die Eltern nicht dabei waren, und deshalb wollte er woanders nach Löwenzahn suchen und nicht gemeinsam mit Magda und Helmut. Er mochte seine Geschwister nicht. »Häng doch nicht immer an meinem Rockzipfel«, schnauzte Magda ihn immer an, wenn er ihr zu nahe kam, und Helmut nannte ihn ständig »Baby«. Dabei war er gar kein Baby mehr. Er war schließlich schon ein Schulkind und machte schon lange nicht mehr in die Hose. Leider aber ins Bett. Nicht jede Nacht, doch irgendwie schon ziemlich häufig. Aber dafür konnte er doch nichts. Wie sollte man im Schlaf merken, wenn man mal musste? Er hatte keine Ahnung, wie die Großen das machten, da konnte er vor dem Schlafengehen noch so oft pinkeln gehen und nichts trinken. Natürlich wurden seine Geschwister, mit denen er sich ein Bett teilte und zwischen denen er lag, genauso wach wie er, wenn sich die Nässe, die aus ihm herauskam, auf der dünnen Matratze ausbreitete. Meistens riefen sie dann »Iiiih« und »Ist das eklig« und solche Sachen. Davon wurden dann die Eltern wach und schimpften. Doch die Schimpfe war nicht so schlimm wie das Schämen. Er wollte so gern groß sein und seiner Mutter, die dann schläfrig und vor sich hin murrend das Bett neu bezog und ihm etwas Neues zum Anziehen gab, nicht so viel zusätzliche Arbeit machen. Es klappte einfach nicht. Das nachts Einpinkeln passierte ihm immer wieder. Gerade gestern Abend hatte er deswegen versucht, nicht einzuschlafen, aber es hatte nicht funktioniert, und er und seine Geschwister waren mitten in der Nacht durch die Feuchtigkeit unter ihnen aufgewacht, die er verschuldet hatte. Wieder war das Geschrei groß gewesen. Dieses Mal war jedoch Vater aufgestanden, weil es Mutter nicht gut ging. Was sie hatte, wusste er nicht. Vater hatte bestimmt, dass er selbst die Wäsche wechselte, während alle anderen zuschauten. Er hatte die Schlafmatte umdrehen und dann das frische Laken darüberlegen müssen. Wenn die Mutter das machte, ging das ganz schnell. Bei ihm hatte es eine Ewigkeit gedauert, obwohl er sich angestrengt hatte. Aber die Schlafmatte war schwer, und als er sie endlich umgedreht hatte, wollte das olle Laken sich einfach nicht glattziehen lassen. Magda meckerte darüber die ganze Zeit herum, bis Vater lospolterte, dass er seinen Schlaf bräuchte und keine Kinder, die nachts miteinander zankten. Die Mutter lag während alledem im Elternbett, schaute erschöpft zu und sagte gar nichts – wenn der Vater in solch einer Stimmung war, war das auch besser. Als sie endlich wieder alle in ihren Betten waren und Vater schnarchte, flüsterte Helmut in sein Ohr, dass er allen Kindern in der Kolonie erzählen würde, dass sein Bruder ein Bettnässer sei. Schon deswegen wollte er jetzt nicht mit seiner Schwester und dem Bruder zusammen Löwenzahn pflücken. Sie würden bestimmt auch andere Kinder treffen, und wenn Helmut denen erzählte, dass er noch ins Bett machte, würden sie alle über ihn lachen und das brachte ihn dann zum Weinen, was noch peinlicher war. Sowieso machten ihm die vielen anderen Kinder oft Angst. Sie waren laut und rangelten andauernd miteinander. Das mochte er nicht. Sein einziger Freund Peter, der mit seiner Familie neben ihnen wohnte, machte ihm niemals Angst. Im Gegenteil fühlte er sich an dessen Seite absolut sicher, denn Peter war sein Beschützer. Der zwei Jahre Ältere stellte sich sogar vor Helmut, wenn dieser ihn schubsen oder ihm noch Schlimmeres antun wollte. So viel Mut hätte er ebenfalls gern und er hoffte, wenn er größer war, würde er sich das auch trauen.

Er war nur wenige Schritte weit gekommen, als er das Mauzen gehört hatte. Er war neugierig stehen geblieben, um zu lauschen, woher das klägliche Rufen kam. Er liebte Tiere. Sie waren anders. Nicht so wie Menschen. Vor Tieren hatte er keine Angst. Noch nicht einmal vor Wespen, denn wenn man nicht zappelte, taten sie einem nichts. Tiere waren lieb, und sie mochten ihn.

Er erinnerte sich noch gut daran, als der Vater zu Weihnachten ihr letztes Kaninchen geschlachtet hatte. Er hatte geweint, und Helmut hatte ihn Memme genannt, aber er hatte nichts gegen die Tränen tun können. Das Kaninchen hatte ihm so unendlich leidgetan. Als es dann als Braten auf dem gedeckten Tisch gestanden hatte, hatte er es trotzdem gegessen – er hatte wie immer einfach großen Hunger gehabt – und das Fleisch hatte ihm sogar geschmeckt.

Noch heute meldete sich sein schlechtes Gewissen, wenn er an das Kaninchen dachte. Er hatte miterlebt, wie es groß geworden war, und oft mit ihm gespielt, es gestreichelt und gefüttert. Sein Vater hatte ihm gesagt, er sollte ihm keinen Namen geben, aber wenn er mit ihm allein gewesen war, hatte er es Muckel genannt. Muckel war zutraulich gewesen und ganz flauschig. Genauso wie das kleine Kätzchen, das er jetzt auf seinem Schoß hatte und streichelte. Es hatte hinter dem Busch gesessen, als es gemauzt und ihn dadurch auf sich aufmerksam gemacht hatte. Er war in die Hocke gegangen und hatte unter den Busch geguckt. Als er nichts entdecken konnte, es aber weiter mauzte, war er um den Busch herumgekrochen und hatte das schwarze Kätzchen mit den weißen Pfoten gefunden. Es war noch ganz klein und hatte sich bestimmt verlaufen und seine Mutter verloren. Hier gab es einige Katzen und immer wieder Katzenbabys. Seine Eltern fanden das gut, weil die Katzen Mäuse und Ratten wegfingen. Er fand das gut, weil er auf diese Weise oft ein Tier zum Streicheln fand. Manchmal redete er auch mit den Tieren und erzählte ihnen, wie gemein seine Geschwister und deren Freunde zu ihm waren. Jetzt fragte er sich, ob er die Mutter des Kätzchens suchen sollte. Nein, jetzt noch nicht, dachte er. Erst einmal wollte er noch eine Weile mit dem niedlichen Tier kuscheln. Das Kätzchen ließ sich das gern von ihm gefallen und schlief kurz darauf ein. Er wurde auch müde, musste bei dem Anblick des warmen, weichen Tiers gähnen und legte sich behutsam, damit Socke, wie er das Kleine bereits für sich nannte, nicht aufwachte, ebenfalls auf den Boden, rollte sich ein und schloss die Augen.

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