Nippes war, bevor er seine politische Karriere in Angriff nahm, tatsächlich leidenschaftlicher Landwirt, in fünfter Generation, mindestens. Seine pralle Hemdsärmeligkeit war ungelogen. Dann rollte die Devise »wachse oder weiche« auch über die Eifelhügel, und Nippes, ausgestattet mit einer guten Nase für Geschäfte, hatte es klüger gefunden, rechtzeitig zu weichen und den Fuhrpark mit schweren Landmaschinen und einiges Land zu verkaufen. Er hatte seine leer stehende Scheune in vier Ferienwohnungen umgebaut. Urlaub auf dem Land lag im Trend. Der Stall blieb Stall, nicht mehr für Schweine, sondern für einen Streichelzoo aus Ziegen, einer kleinen Herde Heidschnucken, jeder Menge Kaninchen und vier flauschigen Eseln. Wandern mit Eseln. Nippes machte Witze darüber. »Wer mit Eseln wandert, ist selbst einer.« Esel können eine Ewigkeit wie festgenagelt auf der Stelle stehen bleiben und nichts bringt sie fort. Dann wieder traben sie los und der wandernde Mensch stolpert neben ihnen her.
Es war Lisamaries Aufgabe, das mit den Gästen und der niedlichen Menagerie. Er hatte dafür keine Zeit, die Politik brauchte ihn. Für sie hatte Nippes über dem Stall eine eigene Wohnung eingebaut. Mit ihrem Vater unter einem Dach leben, in ihrem einstigen Kinderzimmer, das hatte sie nicht gewollt. Auf gar keinen Fall.
Baltes las in der Akte: Lisamarie Bentheim, zweiunddreißig Jahre alt, einzige Tochter von Timotheus und Katharina Nippes, sehr gutes Abitur am internationalen Eifelgymnasium, dann Architekturstudium in Köln nicht durchgehalten, danach Animateurin für eine große Hotelkette in Antalya und Olhão, Kreuzbandriss, arbeitslos, drei Jahre Ehe mit einem John Bentheim in den USA, keine Kinder, zurück in die Eifel, Mutter gepflegt bis zu deren Tod. Kein Alibi.
Ihre Aussage sprang ihm in die Augen: »Ich habe mir zwanzig Jahre lang vorgestellt, wie es ist, wenn er tot ist. Aber jetzt merke ich … das ändert gar nichts. Nicht das Geringste ändert das.« Sie hatte laut Subotkas Kommentar bei diesen Worten nicht kühl gewirkt, eher den Tränen nah.
*
Baltes und Vera schlenderten durch den Dauner Kurpark, Hand in Hand. Irgendwie war es dem Kurpark gelungen, der Aufmerksamkeit der Touristen zu entgehen, die im Corona-Sommer die Eifel fluteten und an den Maaren Schilfgürtel und Seerosen niederwalzten oder sich mit ihren Wohnmobilen in den gewundenen Kleinstadtstraßen und Dorfgassen verkanteten. Im Park war die Welt so heil wie vorher. Die Fische bahnten sich in majestätischer Gelassenheit ihre Bahnen durch das dunkelgrüne Wasser des Weihers, die Enten bettelten beharrlich schnatternd um Brotkrumen, nicht ahnend, dass die für sie selbst ungesund waren. Der einst sattgrüne Rasen war zwar von der Dürre schütter und braun geworden, doch noch immer plätscherte die Lieser zwischen Park und Wald entlang. Sie ließen sich auf einer Bank ganz nah am Kneippbecken nieder und sahen zu, wie sich wenige Meter entfernt ein Rennradler in neongelbem Outfit anschickte, den Kosmosradweg Richtung Meerfeld zu erobern. Er würde unterfordert sein, es war fast durchgängig eine gemütliche Strecke ohne imposante Steigungen. Das grelle Trikot geriet schnell aus dem Blick, nur noch das Knirschen der Reifen auf dem mit feinkörniger Lava befestigten Weg war einige Momente länger zu hören.
»Wir sollten auch mal wieder Rad fahren«, meinte er. »Das macht den Kopf frei.«
»Ist deiner nicht frei?« Vera tätschelte sein Knie. »Lass dir doch Zeit. Ich meine es ernst. Wenn du zu früh in die Mühle zurückgehst, ist das Risiko für einen Rückfall groß. Ich brauche dich, verstehst du das?«
Er legte seine Hand auf ihre, drückte sie sanft. »Keine Angst. Ich bin wieder neugierig. Ich habe wieder Lust auf die Arbeit. Und außerdem: Etwas an dem Fall sagt mir, dass da jemand am Werk war, dem es ähnlich ging wie mir. Nur viel brutaler, natürlich.« Er schaute einem großen dunklen Tier zu, vielleicht ein Karpfen, dessen Maul an der Wasseroberfläche nach Luft schnappte. Plötzlich tauchte es ab, hinterließ kleine, sich kreisförmig ausbreitende Wellen. »Kannst du dir vorstellen, dass eine Tochter ihren Vater auf eine solche Weise tötet? Ihn zerhackt und in den Müll wirft?« Er hoffte auf Antwort, auf Sachlichkeit. Er konnte sich darauf verlassen, als Sozialarbeiterin war sie unbestechlich nüchtern und gut.
Sie nahm ihre Hand zurück und schwieg eine Weile. »Mir ist schon viel Wut begegnet. Sicher gibt es immer wieder den Wunsch, so etwas zu tun. Man stellt es sich vor. Aber es wirklich zu machen … nein. Ich glaube nicht, dass irgendeine meiner Betreuten so was in die Tat umsetzen würde. Nicht mal, wenn sie geschlagen wurden. Gerade dann nicht. Die Frauen verharren auf der Opferseite. Das kennen sie, sie finden da nur schwer heraus, ihre Wut richtet sich eher gegen sich selbst … wenn sie überhaupt zulassen, das zu spüren. Oder sie gehen weg, ganz weit weg.«
*
Lisamarie Bentheim war weit weggegangen und zurückgekehrt. Baltes fuhr auf das Nippes’sche Anwesen. Er wollte sich selbst ein Bild machen. Von allem, was seine Kollegen damals notiert hatten. Die Pracht überraschte ihn nicht. Reiche Bauern hatte es in diesem Landstrich schon immer gegeben. Anwesen – das traf es, es glich fast schon einem Herrenhaus. Baltes stand vor einem in hellem Altrosa verputzten stattlichen Dreiseithof mit schwarz glänzenden Dachschindeln, mit weiß gestrichenen Fensterstürzen, gediegenen hölzernen Rahmen und einer wuchtigen, zweigeteilten Haustür aus Eiche. Überall waren Blumenkübel verteilt, aus denen sich rote, violette und weiße Geranien rankten. Sogar eine Palme war in den kopfsteingepflasterten Innenhof gestellt worden und fühlte sich offenbar wohl im Eifelklima. Abseits, in einer weiß markierten Parkbucht, standen drei Autos, ein SUV und zwei Kombis mit Hundegittern, alle mit Kennzeichen von weit her … Heile Wanderurlaubswelt. Baltes atmete tief durch. Ja, das Glück lag so nah, ein paar Kilometer vor der Bürotür. Irgendwo hinter den Mauern blökte ein Schaf, andere stimmten mit ein.
Er klingelte. Doch im Haus tat sich nichts. Er versuchte, durch eines der Fenster im Erdgeschoss zu schauen. Das Wohnzimmer, in das er blickte, war menschenleer … Ein gemauerter weißer Kaminofen, ein voluminöses braunes Ledersofa mit bunten Kissen, ein Regal voller Bücher. Er hatte Nippes nicht zugetraut, ein Literaturgenießer zu sein, aber dann bemerkte er einen aufgeschlagenen Modekatalog auf dem Couchtisch und ahnte, dass Lisamarie Bentheim nach dem Tod ihres Vaters längst den Zufluchtsort über dem Stall verlassen und den feudalen Wohntrakt für sich erobert hatte.
Unschlüssig blieb Bentheim stehen. Sollte er zurückfahren? Immerhin waren es vierzig Kilometer von seinem Homeoffice in Daun hierher. Diesmal meckerte ein Ziegenchor, klar erkennbar aus dem Stallgebäude. Er ging hinüber. Eine schlichte Stalltür wurde geöffnet.
Auf dem Foto in den Akten sah sie stämmig aus, die Familienähnlichkeit mit ihrem Vater war frappierend und auch der Blutschwamm war da in ihrem Gesicht, wenngleich deutlich kleiner und fast in den Haaren versteckt. Die blonde Frau, die auf der Schwelle zum Stall stehen blieb, wirkte jedoch fast zerbrechlich und durchscheinend wie jemand, der eine lange Krankheit überstanden hatte. Sie steckte in einer Cargohose und einer Arbeitsjacke, die ihr an Schultern und an den Hüften unförmig runterhingen, die klobigen Gummistiefel waren viel zu weit für ihre Waden. Vielleicht hatte ihr neues Leben ohne den Vater nebenan dazu geführt, eine seelenschützende Fettschicht loszuwerden. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
Baltes zückte seinen Dienstausweis.
»Haben Sie neue Erkenntnisse?«, fragte sie, bevor er irgendetwas sagen konnte. Ihre auffallend hellen Augen waren voller Lebendigkeit, in ihnen lag keine Spur von Angst oder Beunruhigung.
Nach Aktenlage war sie eine Verdächtige, noch immer. Doch nach ihrem gelassenen Auftreten zu urteilen war sie das nicht. Baltes registrierte den Widerspruch. Aber er musste nichts bedeuten. Der Kommissar wusste, dass sogar Täter, die eindeutig überführt werden konnten, sich selbst eine ganz andere Geschichte erzählten und fest an diese glaubten. Sie erinnerten sich an eine vollkommene Unschuld, die es nicht gab. »Der Fall wird noch mal überprüft, routinemäßig. Ich würde mich gern mit Ihnen über Ihren Vater unterhalten.«
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