Vera lehnte sich an ihren Mann. »Wo er recht hat, hat er recht«, raunte sie grinsend in sein Ohr, »und es geht nicht mit Schickimicki und erst recht nicht mit Larifari.«
»Und ich füge hinzu: Es geht nicht mit Schickimicki!«
Baltes tätschelte das ehefrauliche Knie. »Hast du seine Rede geschrieben?«
»Pssst!«, machte jemand.
Sie schüttelte den Kopf. »Keine Sorge … Ghostwriterin werde ich erst mit Altersdemenz. Aber eine solche Rhetorik, die kann sich auch ein Schimpanse merken.«
Lamm beugte sich an Baltes vorbei zu Vera. »Unterschätzen Sie unsere nächsten Verwandten nicht. Versuche haben ergeben, dass die besser Memory spielen als wir alle.«
»Schschscht …«, kam es aus einer anderen Ecke.
»Mögen Sie Ihren Parteifreund nicht?«, fragte Werner Baltes.
»Ach, wissen Sie … Gleich wird’s spannend. Hoffe ich doch.« Lamm federte auf seinen Sitz zurück und schaute, als wäre er live bei »Verstehen Sie Spaß« und kenne als Einziger die Finte.
»Großes haben wir angestoßen, ich sage, Großes!«, schallte es vom Rednerpult. Nippes schwitzte jetzt auch auf der Stirn. Sein Blutschwamm glühte rot. »Wir gehen in eine neue Ära des Umweltbewusstseins. Hier vor Ort, hier bei den Menschen!«
»Wo denn sonst?«
»Vera, sei doch nicht immer so verdammt logisch.«
»Das sagt ausgerechnet ein Kommissar?«
»Freidehsforfjutscha war gestern«, lief Nippes zur vollen Form auf, »wir haben die Antwort, wir sind die Antwort, für die Eifel, in der Eifel!«
»Immerhin ist er noch räumlich gut orientiert«, meinte Vera. Lamm und Werner Baltes grinsten. Sie machte ein Funkeln in den Augen des Geistlichen aus, der ihr gegenübersaß, ansonsten blieb der Mann nach wie vor reglos.
»Unsere Antwort ist ›Emma‹!« Eine Rückkopplung schrillte durch den Saal, ein kollektives Stöhnen folgte. Nippes bog das Mikro etwas zur Seite, das unerträgliche Pfeifen hörte auf. »Mit der Eifel-Mosel-Müllabfuhr läuten wir eine ganz neue Ära ein. Wir verbinden Ökonomie und Ökologie, wir sind die Zukunft, meine Damen und Herren, meine lieben Freunde, wir!« Er reckte den rechten Zeigefinger empor und hatte mit weit aufgerissenen Augen einen verheißungsvollen Gesichtsausdruck angenommen. »Niemand von euch wird noch eine stinkende und klebrige Mülltonne voller Ungeziefer im Hausflur stehen haben. Diese Zeiten sind vorbei, liebe Freunde, ja, ich sage euch, sie sind vorbei!« Nippes breitete die Arme aus, zeigte die feuchten dunklen Stellen seines Hemdes und krachte mit der rechten Hand ans Mikro. »Wir machen Abfall zu einem Erfolg, zu einem sauberen Erfolg. Wir denken an die Zukunft, wir machen Zukunft. Gerade auch … und das sage ich euch … gerade auch in Zeiten des demografischen Wandels. Jedes Dorf, jede Straße, jede Stadt bekommt supersaubere Sammelstellen für Abfall. Für euren täglichen Küchenabfall. Keine Oma muss mehr mit Besen und Gartenschlauch ihre Tonne reinigen, keine Oma muss sie bei Schnee und Eis zur Straße schleppen, keine Oma muss jeden Cent ihrer kleinen Witwenrente dreimal umdrehen, nur um ihre Gemüsereste loszuwerden. Denn das Schönste: Das ist viel billiger, ja viel billiger als eure Tonnen voller Maden, die ihr da jetzt im eigenen Garten stehen habt oder in der eigenen Garage.« Er machte eine Pause, in Erwartung von Beifall, erntete jedoch zunächst Gemurmel, bis dann doch jemand klatschte. Werner Baltes sah zur Seite: Es war Lamm. Andere folgten seinem Beispiel, erst zögerlich, dann mitgeschleift von den Einzelnen, den Vielen, der hundertköpfigen Menge.
»Wovon redet Nippes eigentlich?«, brummte Baltes. »Bei uns stinkt nichts. Und der ist doch Landwirt. Was hat der gegen ein bisschen Geruch?« Er wurde ungeduldig. »Wann kommt er endlich zum Punkt?«
Lamm beugte sich zu ihm. »Ganz im Vertrauen, Herr Kommissar, ich glaube nicht, dass das neue System reibungslos durchgeht. Die Leute mögen keine Veränderungen.«
»Ach, wer soll sich über solchen Kleinkram schon aufregen«, schaltete sich Vera ein, »es ändert sich sowieso immer alles. Ihr Parteifreund versucht wohl nur, mit Nebensächlichkeiten davon abzulenken, dass er Klimakrise, Flüchtlingselend, Terrorismus und so nicht in den Griff kriegt.«
Lamm sah sie über den Rand seiner Brille an. »Ihnen fällt schon auf, gute Frau, dass Sie da von einer kleinen regionalen Wählervereinigung etwas viel verlangen?«
»Na und? Alles fängt klein an. Hat Ihr Parteifreund sonst noch was zu sagen?« Sie setzte sich kerzengerade auf und bemerkte, dass der Geistliche ihr aufmerksam in die Augen sah, als hätte er sie als Seelenverwandte ausgemacht.
»Die Müllgebühren werden deutlich sinken, das sage ich euch, so wie ich hier stehe«, fuhr Nippes mit tiefem Bass fort, wie ein gütiger Nikolaus. »Wir reden hier über echtes viereckiges Geld. Und wir denken an die alleinerziehenden Mütter, die nun mehr in der Tasche haben. Aber …« Nippes machte eine horizontale Handbewegung, als wolle er sein Publikum segnen. »Ich sage: Ja, ja, wir müssen auch an die Jugend denken! Viele von euch wissen, dass mir die Jugend besonders am Herzen liegt.«
In den Priester kam Bewegung. »Das achte Gebot, er sollte es nicht allzu weit auslegen«, sagte er und schwieg sofort wieder, ganz konzentriert auf den Redner, bevor Vera etwas entgegnen konnte. Sie hätte gewettet, dass Nippes ein eifriger Kirchgänger und vorbildlicher Katholik war. Aber offenbar war auch er nicht unfehlbar.
»Die Jugend«, seufzte Nippes nun, »die Jugend braucht Orientierung. Auch und gerade in der Eifel, auch und gerade hier, wo der Zusammenhalt noch intakt ist, wo ein Wort noch etwas gilt. Darum, meine lieben Freunde, darum haben meine Rechtsstaatlichen und ich, wenn ich das so bescheiden sagen darf …« Er bebte kurz auf, ein Kichern, ein Lächeln, ein Lachen, Werner Baltes wusste nicht genau, was es sein sollte. »… etwas ganz Besonderes auf den Weg gebracht. Wir – und das meine ich wirklich – wir bieten den Jugendlichen an, gemeinsam mit den Pfarreien, dass sie ein Schnupperpraktikum auf unseren Höfen machen können. Tagsüber richtige Arbeit, danach Gesprächsrunden. Einmal über alles reden können, darum geht es doch. Und was tun! Runter vom Sofa, sage ich nur, rein in die Äktschn. Trecker fahren, auf dem Acker. Auch die Mädels, ja, die natürlich auch! Und im Wald helfen, das Totholz fortzuschaffen. Ja, unsere geschundenen Wälder brauchen Hilfe. Die bekommen sie nun. Von den Jugendlichen, die unsere Jugendämter betreuen. Da braucht niemand mehr Freidehsforfjutscha, wir machen das ganz konkret, sage ich euch, ganz konkret! Ich sage das auch als Bauer, ich bin ja auch ein Bauer, wie ihr wisst. Ich weiß, wie und wo man anpacken muss. Und jetzt wird angepackt! Auch von den jungen Leuten.« Er selbst packte an, rüttelte am Rednerpult, während abermals Applaus aufbrandete, diesmal ohne Zögern. »Ich danke euch, meine lieben Freunde, ich danke euch. Auf in ein neues Jahr, auf in ein gutes Jahr. Wir Rechtsstaatlichen, wir schaffen das, dank euch.« Er trat ab, schweißnass, lächelnd, zufrieden.
Werner Baltes hatte Nippes seitdem nie mehr lebendig gesehen. Zwischen dem Neujahrsempfang und dem Auffinden der Leichenteile lagen acht Monate. Was war in dieser Zeit geschehen? Hatte es schon damals jemanden gegeben, der überlegte, wie er den ihm Verhassten beseitigen könnte? Denn es musste Hass gewesen sein. Kein Kalkül, kein nüchternes Aus-dem-Weg-Räumen eines Widersachers oder Konkurrenten. Oder war das Wüten der Zerstückelung eine bewusst gelegte falsche Fährte? Ausgeschlossen war wohl ein Raubmord, denn in Nippes’ Haus fehlte nichts. Laut Aktenlage. Sogar der ordnungsgemäß abgeschlossene Schrank mit den legal erworbenen Jagdwaffen blieb unangetastet. Die Munition lag vollzählig daneben. Baltes blätterte und las. Didier und die Subotka hatten akribisch gearbeitet.
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