»Wieso das?«
»Erklär ich dir später.«
Unsicher ging Karl-Dieter auf die hintere Tür zu, ein großes gelbes Schild warnte: »Privat! Zutritt für Gäste untersagt.« Zögernd klopfte er. Als sich niemand rührte, sah er fragend zu Mütze zurück, der ihn mit energischem Gesichtsausdruck deutlich machte, trotzdem einzutreten. Vorsichtig drückte Karl-Dieter die Klinke hinunter. Wenn er etwas hasste, dann die Privatsphäre anderer Menschen zu verletzen. Konnte Mütze nicht auf andere Weise seinen Recherchen nachgehen?
Als Mütze die krächzende Stimme der Witwe hörte und gleich darauf das Gestammel von Karl-Dieter, grinste er in sich hinein. Seine Chance war gekommen. Wenn es jemand verstand, ältere Damen in ein angeregtes Gespräch zu verwickeln, dann Karl-Dieter. In Erlangen wurde er von einem Seniorenkreis zum nächsten gereicht, um Anekdoten aus dem Theaterleben zu erzählen. Die Alten waren von dem Bühnenbildner ganz entzückt, nach dem Vortrag saßen sie dann oft noch lange zusammen an der Kaffeetafel und tauschten Kuchenrezepte aus.
Rasch verließ Mütze das Haus und ging um die Mülltonnen herum in den Garten. Unter dem Apfelbaum blieb er stehen und betrachtete den verdorrten Ast, an dem die Fäden im Wind wehten. Dann kniete er sich nieder und untersuchte mit wachen Augen den Rasen unterhalb des Baumes. Keine drei Minuten später war er zurück in der Pension. Karl-Dieter und die Wirtin standen zusammen an der Rezeption. Wie es Mütze vermutet hatte, hatte sich die Witwe tatsächlich in ein Gespräch verwickeln lassen. Als sie Mütze sah, aber verstummte sie abrupt, verabschiedete sich knapp und wollte wieder in ihren Gemächern verschwinden, da entfuhr ihr ein markerschütternder Schrei und sie griff sich hektisch in den Ausschnitt ihrer Bluse.
»Allen Ernstes?«, lachte Mütze.
»Allen Ernstes! Schon wieder zwei Maikäfer, vielleicht sind es dieselben gewesen. Die Viecher scheinen sich in unsere Witwe verliebt zu haben und haben sich in den Ausschnitt ihres Kleides gestürzt.«
»Ich werd nich mehr! Und dann?«
»Hast’s doch selbst gesehen! Sie hat die Panik bekommen und solange am Kleid geschüttelt, bis die Käfer unten rausgepurzelt sind. Ich konnte sie gerade noch aufsammeln, sonst hätte sie sie zertreten. Hier sind sie!«
Karl-Dieter öffnete die Hand. Die Krabbelkäfer kamen zum Vorschein, breiteten ihre Flügel aus und flogen davon.
»Aber jetzt du, was hast du herausgefunden?«
Sie hatten sich auf den Weg zum Dorf begeben, um im Wirtshaus einzukehren. In der Ferne waren Wolken aufgezogen, aus denen es zu zucken begann. Zugleich grollte und grummelte es leise. Ein Gewitter, kein Zweifel. Kam es näher? Zog es vorüber?
»Der Apfelbaum ist nicht koscher«, sagte Mütze, der kein Auge für das Wetter hatte.
»Erzähl schon!« Karl-Dieter war begierig, Näheres zu erfahren.
»Alles könnte zu der Geschichte passen, weißt schon, zu dem Streich der beiden Bengel.«
»Von Max und Moritz?«
»Genau, die Fäden an dem Ast, die Eierschalen unter dem Baum.«
»Was aber ist daran nicht koscher?«
»Es passt alles ein bisschen zu genau.«
»Wie meinst du das?«
»Das werden wir noch herausfinden.«
Sie kamen wieder am Friedhof vorbei und blieben kurz vor dem Aushang stehen. Karl-Dieter verspürte große Lust, den frechen Zettel abzureißen. Wer steckte nur dahinter? Wer erlaubte sich, über zwei verschwundene Waisenkinder Witze zu reißen? Selbst wenn die beiden sich einen Streich erlaubt hatten, das war nun wirklich der unpassendste Moment, sich über sie lustig zu machen.
»Ob Witwe Bolte den Zettel schon gesehen hat?«
»Darauf kannst du Gift nehmen!«
Vor einem der ersten Häuser, einem windschiefen Fachwerkbau mit kleinem Bauerngarten, kehrte eine alte Frau den Gehsteig mit einem Reisigbesen. Als Mütze und Karl-Dieter vorbeigingen, knurrte sie etwas in ihre Richtung. Die Freunde hielten an, sie hatten die Alte nicht richtig verstanden.
»Ich sagte, ihr macht besser die Biege«, hörten sie die Alte nun zischen.
»Und warum, bitte schön?«, fragte Mütze.
»Finsterfelde ist nichts für Fremde«, murmelte die Alte und wandte sich wieder der Säuberung des Gehsteigs zu und dies mit einer Energie, dass es nur so staubte.
»Hühnerfrikassee«, antwortete der Wirt.
Karl-Dieter rollte die Augen. Er hätte sich etwas Abwechslung auf der Speisekarte gewünscht, Mützes Augen hingegen blitzten. Sie waren die einzigen Gäste bis auf den Mann mit dem Hut und dem Rauschebart, der wohl kein anderes Zuhause besaß und an der Theke stand. Die beiden Freunde hatten an dem Tisch Platz genommen, an dem sie schon gestern Abend gesessen hatten. Der gemütliche Wirt, den alle nur »Wolke« zu nennen schienen, rieb sich die Hände an der Schürze sauber.
»Wieder vom Bio-Hof?«, fragte Mütze.
»Hof ist übertrieben.« Den Mund des Wirts umspielte ein geheimnisvolles Lächeln.
»Wohl aus Privatproduktion?«
»Wärmer.«
»Aus dem Bestand einer am Ort ansässigen Dame?«
»Noch wärmer.«
»Einer Dame, bei der man auch nächtigen kann?«
»Heiß!«
»Von Witwe Bolte!«
»Ich hab nichts gesagt.«
Mütze tat, als sei er überrascht. Manchmal war es hilfreich, sich dumm zu stellen. Er machte ein leicht betrübtes Gesicht.
»Wie man sich freiwillig von seinen geliebten Tieren trennen kann …«
»Nun, ja, so ganz freiwillig ist das wohl nicht gewesen«, sagte der Wirt und senkte die Stimme, obwohl sie doch niemand hören konnte. Oder ob der Mann dahinten am Tresen, der mit Hut und Rauschebart, heimlich lauschte?
»Wie ist das zu verstehen?«, fragte Mütze.
»Haben Sie den Zettel an unserer Gemeindetafel nicht gesehen?«
»Zettel? Welchen Zettel?«
Nun ging der Wirt in die Knie und sprach noch leiser. »Max und Moritz haben die Viecher auf dem Gewissen!«
»Max und Moritz?«
Karl-Dieter war es fast unheimlich, wie gut sich Mütze verstellen konnte.
»Die beiden verzogenen Knaben von Erwin Bolte, dem verstorbenen Mann Ihrer Wirtin. Bevor sie sich aus dem Staub gemacht haben, haben sie Brot an Bindfäden gebunden, daran sind die Hühner verreckt.«
»Wann war das?«
»Wann das war? Seitdem es Hühnerfrikassee gibt«, grinste der Wirt.
»Und seit wann gibt es Hühnerfrikassee?«
Da verzog sich das Gesicht des Wirtes, das Grinsen verschwand, und eine misstrauische Falte quoll zwischen seinen Augen auf. Mit einer raschen Bewegung erhob er sich und fing wieder an, sich die Hände an seiner verdreckten Schürze zu reiben.
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, sagte er und verschwand in der Küche.
»Verrat mir doch, was du vermutest!«
Die Freunde waren auf dem Weg zurück zur Pension, Karl-Dieter platzte vor Neugier.
»Alles noch nicht spruchreif«, knurrte Mütze, »wenn ich recht habe, stimmt da was nicht.«
»Was stimmt denn nicht?«
Mütze sah sich um. Sie hatten das Dorf verlassen, niemand war zu sehen. Nur weit draußen, auf den Feldern weit hinter dem Friedhof, tockerte ein alter Traktor entlang und zog eine staubige Fahne hinter sich her. War denn schon die Erntezeit gekommen?
»Also gut«, lenkte Mütze ein.
Eigentlich hatte er sich geschworen, Karl-Dieter bei seinen Ermittlungen nur in das Nötigste einzuweihen, aber dieser Fall war in mancherlei Hinsicht besonders. Vorsichtig zog er eine Klarsichttüte aus seiner Schimanskijacke, in der Tüte glänzte es weiß.
»Was ist das?«, fragte Karl-Dieter, obwohl es sich eindeutig um den Rest einer Eierschale handelte.
»Hab ich unter Witwe Boltes Apfelbaum gefunden.«
»Jedes legt noch rasch ein Ei und dann kommt der Tod herbei …« Karl-Dieter betrachtete die Schale nun mit sichtbarem Entsetzen. »Dann stimmt es also, was der zeichnende Dichter auf das Blatt geschmiert hat.«
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