»Das kann ich bestätigen.« Heinrich Oberstrass war hinzugetreten, bemühte sich jedoch, nicht in Richtung des Toten zu schauen. »Vor fünf Minuten war Frau Zwingli noch mit mir im Debattierzimmer.«
»Das muss nicht unbedingt etwas zu sagen haben«, mischte Martin Leeman sich ein. »Vielleicht kam ihr erst im Nachhinein zum Bewusstsein, was sie getan hatte, und sie unternahm einen untauglichen Versuch, es wieder rückgängig zu machen. Menschen in Krisensituationen tun seltsame Dinge. Auch wenn es noch so abwegig scheint, haben sie oft die Vorstellung im Unterbewusstsein, dass sie ihr Verbrechen wieder ungeschehen machen können – je schwerer das Verbrechen, desto stärker diese Wunschvorstellung. Dieser Drang, die Schuld loszuwerden, kann unwiderstehlich werden.« Er nahm ein leeres Blatt Papier von seinem Schreibtisch und begann, Notizen zu machen. Herr Storz beobachtete ihn misstrauisch von der Seite. Offenbar war er beleidigt, dass sein Angebot, die Untersuchungen zu dokumentieren, einfach ignoriert worden war.
Die Erklärung, die Martin Leeman vorgebracht hatte, war theoretisch recht überzeugend, überlegte Cressida, er sollte sich einmal an psychologischen Kriminalromanen versuchen. Trotzdem war diese Argumentation natürlich völlig an den Haaren herbeigezogen. Karin war unschuldig über den Toten gestolpert. Anders konnte es überhaupt nicht sein.
Vor ihr auf dem Sessel richtete Karin sich plötzlich auf. »Die Schuld!«, stöhnte sie und schlug sich mit der blutigen Hand gegen die Brust. Cressida erschrak. Was war nur mit Karin passiert? Am liebsten hätte sie ihr den Mund zugehalten und hätte sie erst einmal in den Waschraum geführt, um das Blut abzuwaschen und sie mit kaltem Wasser zur Vernunft zu bringen. Wenn sie nur wüsste, was Karin so quälte!
»Am besten erzählen Sie uns alles, dann fühlen Sie sich besser. Jedes Problem fühlt sich leichter an, wenn man es mit jemandem teilt.« Das war wieder typisch für Daniel, dass er die bedauernswerte Karin in Sicherheit wiegen und sich als verständnisvoller väterlicher Freund profilieren wollte. Auf seine guten Absichten konnte man sich jedenfalls nicht verlassen, das wusste Cressida aus Erfahrung. »Nichts ist so schlimm, wie es einem in der ersten Panik vorkommt. Je mehr wir über den Toten erfahren, desto einfacher wird es sein, den ganzen Fall zu verstehen. Darüber reden, befreit. Sie sind nicht allein. Wir nehmen alle Anteil an dem, was Ihnen geschehen ist. Das war sicher ein großer Schock für Sie.«
In einer Hinsicht hatte er natürlich recht – zur Aufklärung des Mordes musste man alle Geschichten kennenlernen, in die die Verdächtigen verstrickt waren. Und woher sollte man sie erfahren, wenn nicht von den Betroffenen selbst?
»Niemand kennt die eigene Geschichte so gut wie man selbst«, sagte Cressida und wartete auf bestätigendes Nicken aus der Runde.
Stattdessen kam ein verächtliches Lachen von Herrn Storz. »Man erzählt sich selbst immer nur die Geschichte, die man glauben möchte!«
»Das ist wahr. Aber erfundene Narrative geben wertvolle Hinweise darauf, wo man nach weiteren Geschichten suchen sollte, sowohl für einen selbst als auch für Außenstehende. Ich fände es gut, wenn Karin uns ihre Geschichte erzählt. Das wird uns helfen, das Vorgefallene besser zu verstehen.«
Geschichte und Vorgeschichte haben einen Hintergrund, der sich im Halbdunkel verliert.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
Sie hören mir zu, und ich sage, was ich denke, aber habe ich noch einen Überblick darüber, was ich denke und was ich tatsächlich ausspreche? Eigentlich kommt es nicht darauf an, nicht nach alledem, sollen sie mit mir machen, was sie wollen, vielleicht versteht ja doch irgendjemand, wie es war, wie es sich angefühlt hat.
Immer wieder dieser Geruch, in dem ich ertrinke, wenn ich die Eingangshalle betrete. Essigreiniger, Ammoniak, künstliches Vanillearoma, Karbol, gekochte Zwiebeln. Immer wieder der Schläfrige im Empfangs-Glaskasten, zerknitterter Anzug, Namensschild E. Schmidt, Verwaltungsfachangestellter. »Guten Tag, Karin Zwingli, für Urs Zwingli, Zimmer 207.«
Sein Kugelschreiber bewegt sich langsam über dem Besucherbuch. Kein Computer für Herrn Schmidt. Dabei steht einer hinter ihm im Regal, sieht sogar ziemlich modern aus. Wahrscheinlich ist er nicht angeschlossen. Offline. Hier in diesem Haus ist keiner an das Leben angeschlossen.
Sauber geputzte Treppen, die benutzt außer mir wohl keiner. Nummer 207, ich klopfe an, als ob das wichtig wäre. Ich komme jeden Tag um 16.30 Uhr, er weiß das, zählt wahrscheinlich die Minuten. Klar bei Verstand, sagt der Heimleiter stolz, als ob das erstens sein Verdienst und zweitens etwas Tolles wäre. Scharf wie eine Rasierklinge, steckt uns alle in die Tasche. Mein Vater, der weise alte Mann des Felix- und Regula-Heims.
Diesmal liegt er im Bett, das ist neu. Sonst sitzt er immer in seinem Bademantel am Fenster und tut so, als ob er Zeitung lesen würde. Er ist fast blind, das wissen wir beide, doch das Zeitunglesen war ihm immer wichtig. Du könntest es dir vom Computer vorlesen lassen, sage ich ihm. Ich will mit Stil untergehen, antwortet er, sonst ist mir nichts weiter geblieben.
Heute ist es anders. Er liegt im Bett, als wenn es Schlafenszeit wäre, auf dem Rücken, den Kopf in die Mitte des Kissens gebettet, die Bettdecke gerade bis an sein Kinn hochgezogen. Erst als ich an sein Bett trete, schlägt er die Augen auf. »Komm näher«, flüstert er, »setz dich, jetzt ist es so weit, ich habe sie alle genommen.«
Er hat mir erzählt, dass er seit Monaten Schlaftabletten hortet, ich sollte ihm noch weitere mitbringen, und ich habe Nein gesagt.
»Sie sind hier zu schnell, passen immer auf«, sagt er, »sie werden mich finden und mir den Magen auspumpen, dann lebe ich weiter, aber kränker als vorher, das willst du nicht. Sag, dass du mir das nicht antun wirst. Du hilfst mir. Versprich mir, dass du mir hilfst.«
Er drückt meine Hand. Nicht so fest wie sonst, die Tabletten machen ihn schon schläfrig. »Ich kann nicht«, sage ich, »du weißt das. Verlang nichts Unmögliches von mir.«
»Es ist ganz einfach«, sagt er, »du musst noch ein paar Minuten warten, dann drückst du mir die Decke über das Gesicht, ich schlafe dann, lass mich einschlafen, ich rutsche ins sanfte warme Dunkel, lass mich nicht wieder aufwachen zu diesem Nichtleben hier.« Sein Griff wird schlaff, seine Augen fallen zu, die Bettdecke liegt dick und weich an seinem Kinn. Früher hat er mich nie um etwas gebeten, er wusste immer alles besser, konnte immer alles besser, ich war die dumme kleine Tochter, für einmal kann ich seine Heldin sein, haben seine Augen mir gesagt. Er war immer schon ein Tyrann, wahrscheinlich muss ich deshalb um ihn weinen, er war so groß und hat alles verloren, kann fast nichts mehr ohne Hilfe tun, nicht die einfachsten Dinge des Alltags, jeden Tag verfällt er ein bisschen mehr. Seine Gesichtsfarbe ist gelblich, schon jetzt sieht er fast aus wie ein Toter, es fehlt gar nicht mehr viel. Die Bettdecke fühlt sich flauschig an in meinem Griff, wenn er sich auch nur ein kleines bisschen regt, werde ich sofort aufhören, ich darf das nicht vollbringen, ich darf es nicht, und doch muss ich es für ihn tun, es ist das Letzte und das Einzige, was ich für ihn tun kann. Ich möchte die Augen schließen aber ich darf nicht muss sehen muss auf Zeichen achten darf nicht aufgeben darf nicht …
Sie spürte eine warme Hand auf ihrer Linken. Cressida, die so gern den harten Hund spielte, hatte eine starke mütterliche Seite. Ungewohnt für jemanden wie sie selbst, die ohne Mutter aufgewachsen war, es war gut, sich in diese Wärme hinein zu lehnen. Sie atmete tief durch.
»Ich habe meinen Vater getötet, auf Verlangen. Er litt unter multipler Sklerose im Endstadium und konnte es nicht mehr ertragen. Dem Altenheim habe ich gesagt, dass ich ihn tot im Bett vorgefunden habe, dass er kurz zuvor im Schlaf gestorben sein muss.«
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