Als ob sie so cool hätte reden können an dem Tag. Der Pfleger, der sie auf dem Boden neben dem Bett gefunden hatte, musste ihr den Rücken massieren, damit sie aufhörte zu würgen. Keinen Moment lang hatte er gezweifelt, dass der Anblick ihres toten Vaters sie so aus der Fassung gebracht hatte, sie musste ihm gar nichts erklären.
»Darüber können wir mal in Ruhe sprechen, nur du und ich, wenn du möchtest. Ich weiß, du bist keine Mörderin, und du hast diesen Mann hier nicht getötet.« Cressida sprach mit Zuversicht. Ob sie immer noch so sicher sein würde, wenn sie die ganze Geschichte kennen würde?
»Aber Frau Zwingli hat heute mit diesem Mann hier geredet, ich habe das genau gesehen!« Der hagere Herr Storz bekam vor Aufregung eine unerwartet kieksige Stimme. »Also muss sie ihn gekannt haben! Sie verschweigt uns doch etwas. Kann sie vielleicht mal jemand richtig in die Mangel nehmen, damit wir endlich die Wahrheit erfahren?«
Karin setzte sich gerade in den Sessel, zog energisch die Schultern nach hinten. Sollten sie ihr vorwerfen, was sie wollten, sie fühlte sich nun gegen alles gewappnet. Daniel hatte recht gehabt: Reden befreite tatsächlich.
»Ich denke, wir sollten zunächst einmal auf die forensischen Methoden zurückkommen und die vorhandenen Hinweise sammeln.« Martin Leeman ging zum Toten. »Nachdem jetzt alles fotografiert worden ist, können wir anfangen, die Taschen des Opfers zu untersuchen.«
Er umwickelte seine Hand mit einem Papiertaschentuch und durchsuchte nacheinander die Taschen des Trenchcoats des Toten. Seine Ausbeute legte er auf den Tisch: eine alte lederne Brieftasche, eine angebrochene Schachtel Schmerzmittel, eine noch originalverpackte Schachtel Viagra, eine fast leere Rolle Pfefferminzbonbons, ein gebrauchtes Taschentuch, einen lederbezogenen Knopf.
Cressida sprang auf und öffnete die Brieftasche. »Herr Leeman, ich glaube, wir haben uns geeinigt, dass Sie das Protokoll führen! Hier haben wir also …«
Sie stockte, als Herr Storz sich ostentativ neben sie stellte und ihr betont genau auf die Finger sah.
»Also, wie Herr Storz bestätigen kann, haben wir hier als Erstes eine Identitätskarte mit dem Namen Solomon Leeman.«
Die schockierte Stille, die auf diese Feststellung folgte, dauerte ein paar Sekunden lang an. War es möglich, dass es sich bei diesem heruntergekommenen Alten um den seit zehn Jahren verschollenen großen Dichter Solomon Leeman handelte? Alle hielten den Atem an: Wer würde als Erstes protestieren?
»Das ist nicht wahr.« Martin Leeman sagte das mit unbewegtem Gesicht. »Dies ist nicht mein Vater Solomon Leeman.«
Ständig geistert die Zukunft in den vergangenen Geschichten, und ständig ist die Vergangenheit in der Zukunft lebendig.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
»Ich glaube Ihnen gern, dass dieser Tote nicht Ihr Vater ist. Aber warum sollte er nicht Solomon Leeman sein?«
Cressida drehte sich erstaunt um. Aus welchem Grund interessierte sich Jakob Wildenbruch plötzlich für die Identität des Toten, und was hatte er mit Solomon Leeman zu schaffen?
Jakob Wildenbruch kramte in der Innentasche seines Burberry-Mantels. Schließlich zog er ein gefaltetes blaues Briefpapier hervor.
»Ich wollte das eigentlich nicht, oder jedenfalls noch nicht, an die Öffentlichkeit bringen. Andererseits, unter diesen Umständen, wäre es nicht richtig, wenn ich die Angelegenheit für mich behalten würde. Herr Storz, wären Sie so gut, dieses Schriftstück den Anwesenden vorzulesen?«
Er reichte Herrn Storz den Brief. Basildon Bond-Papier, dachte Cressida, genau wie die englische Brieffreundin damals, verwendete das heute tatsächlich noch jemand? Wahrscheinlich gab es die Firma längst nicht mehr. Typisch für den Wildenbruch, dass er das Blatt nicht ihr, sondern Herrn Storz überreicht hatte.
Der schien sich der Ehre bewusst zu sein. Er drehte und wendete das Blatt (nur von einer Seite beschrieben, mit schwarzer Tinte), um es von allen Seiten gebührend zu betrachten, und hielt es Herrn Leeman zur Protokollierung hin. Dann räusperte er sich und begann vorzulesen.
»Datum: 2.11.2020, also vor fünf Tagen. Sehr geehrter Herr Wildenbruch, entschuldigen Sie bitte, dass ich mich auf diese Weise bei Ihnen persönlich melde. Die Umstände mögen das rechtfertigen – ich bin krank und habe möglicherweise nicht mehr viel Zeit, meine Angelegenheiten zu ordnen. Daher möchte ich das jetzt in Angriff nehmen und ich hoffe, dass Sie als literarisch interessierter Mensch und hochstehende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens mich dabei unterstützen werden. Gern würde ich Ihnen die Geschichte meiner letzten zehn Lebensjahre, der Jahre in selbstgewählter Askese und Einsamkeit, in allen Einzelheiten erzählen und außerdem die Gründe erläutern, die mich dazu bewogen haben, zu diesem Zeitpunkt zurückzukehren. Können wir uns in den nächsten Tagen in der Museumsgesellschaft treffen? Schreiben Sie mir bitte, ob und wann es Ihnen passen würde. – Unterschrift: Solomon Leeman.«
Jakob Wildenbruch blickte in die Runde mit einem Gesichtsausdruck, den er selbst wahrscheinlich für ein bescheidenes Lächeln hielt.
In die Stille hinein tönte Martin Leemans verächtliches Lachen. »So einen schwülstigen Brief hätte mein Vater niemals geschrieben! Sie glauben doch nicht im Ernst, dass dieses Dokument echt ist!«
»Und warum sollte es nicht echt sein?« Jakob Wildenbruch sah ihn mit gespieltem Erstaunen an. »In extremen Lebenslagen verwendet man selbstverständlich einen angemessen ernsthaften Schreibstil, das sollte Ihnen als Schriftsteller einleuchten. Aber ich verstehe natürlich, warum Sie versuchen, die Echtheit des Dokumentes abzustreiten. Die Sache ist Ihnen mehr als nur unangenehm. Denn – wenn Solomon Leeman vor fünf Tagen noch am Leben war, warum hat er sich dann nicht mit seinem Sohn in Verbindung gesetzt?«
»Eben. Schon allein deshalb kann er diesen Brief nicht geschrieben haben. Dieses Dokument ist eine ganz plumpe Fälschung.«
»Ich war natürlich zu Anfang misstrauisch. Als Person des öffentlichen Lebens bekomme ich laufend ungewöhnliche Zuschriften und Anfragen, ich muss vorsichtig sein, bevor ich mich in irgendeiner Form exponiere. Also habe ich recherchiert, meine Sekretärin hat mir dabei sehr geholfen. Zuerst die Presseberichte von vor zehn Jahren, als Solomon Leeman plötzlich verschwand. Er war immer sehr verschwiegen über sein Privatleben gewesen, man kannte nur sein Alter und seinen Wohnort, den Kreis 4 in Zürich. Über seinen Familienstand und seinen Werdegang war nichts bekannt. An der Universität Zürich hatte er einen Lehrauftrag für Poetik, doch auch seinen Studenten gegenüber war er immer sehr zurückhaltend. Er hatte einen Lieblingsstudenten, Martin Leeman. Aber niemals hat er angegeben, dass dieser Martin sein Sohn sei.«
»Obwohl mein Name ja wohl schon ein wichtiges Indiz dafür ist!«
»Leeman ist ein weit verbreiteter Name. Ich habe also im Geburtenregister nachschauen lassen und erfahren, dass ein gewisser Martin Gottfried Leeman, geboren am 1.8.1975 in Zürich, eingetragen wurde mit dem Vater Urs Weber, ledig, aus Winterthur und der Mutter Regula Leeman, ledig, aus Zürich. Das Geburtsdatum stimmt überein mit den Angaben auf dem Klappentext Ihres Buches, Herr Leeman. Was sagen Sie dazu?«
Ich würde mich gern setzen, aber dann wäre ich auf derselben Ebene wie der Tote und die Hauptverdächtige, diesen Gefallen tue ich dem Wildenbruch nicht, wer hätte ihm nur so viel Misstrauen zugetraut und diese Energie eines jagdsüchtigen Terriers. Ich muss mich zu seinen Vorwürfen äußern, entrüstete Verweigerung kann ich nun nicht mehr vorspielen. Wie soll ich es ihnen nur klarmachen, ohne wie ein kaltblütiger Betrüger dazustehen? Es wäre schön, wenn noch jemand außer mir wüsste, dass ich nicht so vernunftbestimmt bin, wie ich mich gebe, sondern dass eine tiefe Liebe mein Handeln bestimmt hat und immer bestimmen wird.
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