»Morgen Vormittag«, schlug Valery vor und alle nickten.
Die Rollen waren so schnell verteilt wie bei unserer Herbstlesung: Valery sollte den König ablenken, ich die Leine durchschneiden, Ralle den Hund entführen und der Hirt das Ganze filmen. Ralle war für Sturmhauben, Valery fürs Verkleiden. Jeder, wie er will, entschieden wir demokratisch.
Am nächsten Morgen saßen kaum noch Leute vor dem »Centrale«. Wir fürchteten schon, die Aktion abblasen zu müssen, aber der König rauschte mit seinem Mops zur üblichen Zeit an. Er hockte sich auf seinen Stammplatz, der Mops ließ sich zu seinen Füßen nieder. Valery, mit Doris-Day-Perücke verkleidet, wartete bereits im Schatten der Eingangstür. Ralle mit aktuellem T-Shirt und doch ohne Sturmhaube schlenderte scheinbar ziellos über die Straße. Mit meinem schärfsten Küchenmesser in der Tasche trank ich am Tisch neben dem König einen Espresso. Der Hirt saß drei Tische weiter hinter der »Süddeutschen« verborgen, das Handy einsatzbereit neben sich auf dem Tisch. Eine solche Szenerie kannten wir aus dem Effeff, Szenen dieser Art hatte jeder von uns schon mal geschrieben. Man musste dabei immer alle Handelnden im Blick behalten, das war das Entscheidende.
Es ging los.
Großer Auftritt Valery. »Otto!«, kreischte sie, stürzte auf den König zu, und der Hirt zückte sein Handy. »Otto, die Susi hat nicht übertrieben. Die neue Frisur steht dir fantastisch!«
Verwirrt, geschmeichelt, wie auch immer, der König griff prüfend in sein Haar – und ich nach meinem Messer. Was gar nicht nötig war, denn der König ließ beim Griff ins Haar die Leine los. Der Mops, von seiner plötzlichen Freiheit überrascht, watschelte hinter Herrchens Rücken ein paar Schritte in Richtung Straße. Schon kam Ralle angesaust, schnappte sich das Viech und rannte davon.
»Nur die Koteletten müssten etwas kürzer sein«, krönte Valery ihren Auftritt. »Bussi, Bussi, bye-bye, Otto.« Sie hauchte einen Kuss auf die Hand und schickte ihn in Königs Richtung. Beim Abgang versuchte sie einen lasziven Hüftschwung à la Marilyn Monroe, aber daran musste sie noch arbeiten, fand ich. Der Hirt steckte Handy und Zeitung ein, winkte dem Kellner und zahlte. Der König bemerkte, dass der Hund weg war, und begann zu zetern. Bevor auch ich mich davonmachte, kniff ich mir in den Arm. Es schmerzte. Kaum zu glauben, die Aktion hatte wirklich geklappt.
Eine Stunde später trafen wir uns in einem Café und entwarfen den Erpresserbrief an König. Valery bestand darauf, ihn zu Hause mit ausgeschnittenen Buchstaben zusammenzubasteln. Wenn schon Erpresserbrief, dann stilecht. »Ich schick einen Fahrradboten ins Centrale. Luigi kann den Brief dann König geben«, meinte Valery, und Ralle fragte, ob wir nicht auch noch Geld von König erpressen könnten, davon habe der Kerl ja genug. Der Hirt bekam einen Tobsuchtsanfall. Dass damit das Robin-Hood-Hafte der Aktion verloren gehe, der Kampf Arm gegen Reich, dass er, Hirt, an der Aktion nur teilgenommen habe, um ein Zeichen zu setzen: für den kleinen inhabergeführten Buchladen gegen die Immobilienhaie der Stadt. Ralle hielt dagegen, dass er selbst arm und der König stinkreich sei. Am Ende setzte sich der Hirt durch und zur Strafe weigerte sich Ralle, den Mops über Nacht bei sich zu behalten. Das musste dann der Hirt übernehmen.
Am nächsten Morgen hatte das »Centrale« geschlossen, und einen weiteren Tag später war das ganze Land im Lockdown. Der König schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Der Erpresserbrief lagerte beim »Centrale«, einen weiteren steckten wir in den Briefkasten der Spielhalle, der aber ohnehin nie geleert wurde. Wir waren buchstäblich auf den Hund gekommen. Nach zwei Wochen gaben wir Luigi Bescheid, er solle dem König sagen, wir wüssten, wo sein Hund steckt. Doch der König meldete sich nicht.
Seither reichen wir den Mops alle zwei Tage von einem zum anderen weiter. Er kotzt alles voll, vor allem Sachen, die schwer zu reinigen sind. Lesesessel. Heizkörper. Für das Überleben von Doros Buchladen hätten wir das noch eine Zeit lang ertragen, aber Doro hat selbst eine Lösung gefunden: ein Ladenlokal in einer Nebenstraße, nicht weit von der bisherigen Lage, nur einmal um die Ecke, das Angebot einer treuen Kundin. Sogar größer als das alte Geschäft, dadurch wird ein lang gehegter Traum wahr: Doro baut ein kleines Café in den Laden ein. Der König kann sie mal, sagt sie.
Die Krise meistert sie, so wie sie alle Krisen meistert: Sie hält durch, sie lässt sich nicht kirre machen, sie pflegt ihre Kontakte, sie improvisiert, sie erfindet sich neu. Natürlich rührt es sie, dass wir ihren Laden retten wollten. Aber den Mops kann sie nun wirklich nicht gebrauchen – dafür Ralle umso mehr. Der arbeitet jetzt als Fahrradkurier für sie. Er fährt im ganzen Viertel Bücher aus, und wenn er auf sein T-Shirt angesprochen wird, zaubert er seine neueste Survival-Story aus dem Hut und verkauft auch gelegentlich eine.
Derweil müssen wir anderen reihum den Hund hüten. Manchmal kommt mir der Verdacht, wir haben dem König mit der Entführung einen Gefallen getan. Der wollte den kotzenden Mops bestimmt längst loswerden. Nun überlege ich, ob ich den Mops beim Gassigehen einfach vor dem »Centrale« anbinde und zurücklasse. Irgendeiner wird sich bestimmt seiner erbarmen. Tierlieb sind die Menschen ja auch in Zeiten der Krise, manche sogar noch mehr als zuvor. So ein Mops ist eine angenehme Gesellschaft. Wenn er gerade mal nicht kotzt.
Gitta Edelmann
Die seltsame Geschichte von Jackie und Heidi
So herrlich habe ich mir Schottland nicht vorgestellt. Bisher habe ich nämlich gedacht, dass dies ein Land im Norden voller Geister, Schafe und Regen sei. Sie auch? Weit gefehlt!
Falls es hier Geister gibt, halten die sich von uns fern. Schafe laufen zumindest hier in der Hauptstadt nicht auf der Straße herum. Und der Himmel ist von strahlendem Blau, marmoriert mit nur ganz wenigen weißen Wolkenfetzen. Ich habe vom Edinburgh Castle bereits gefühlt tausend Aufnahmen gemacht, hauptsächlich von den Princes Street Gardens aus, aber auch von der anderen Seite her, vom Grassmarket, wo wir nun vor dem berühmt-berüchtigten Pub »The Last Drop« sitzen, den Straßenmusikern lauschen und zu Fish and Chips unser Pint trinken.
»Mit ›The Last Drop‹ ist nicht etwa der letzte Tropfen Bier im Glas gemeint«, doziert Heidi, »sondern das letzte Fallen am Galgen. Der stand nämlich früher gleich hier.«
Heidi ist voller solcher Geschichten.
Edinburgh ist voller solcher Geschichten.
Und inzwischen bin sogar ich voller solcher Geschichten.
Aber heute Abend wollen wir uns eine etwas literarischere Geschichte anhören. Heidi hat uns Karten für eine Lesung reserviert.
Loreena MacArthur, »Nighttime Visitors«.
Ich liebe dieses Buch, das mir Heidi vor einigen Wochen in ihrer winzigen Buchhandlung in Bonn empfohlen hat. Noch gibt es keine deutsche Ausgabe und ich hätte große Lust, Loreena MacArthurs spannenden Roman und ihre poetische Sprache zu übersetzen. Obwohl das nicht einfach sein dürfte. Aber ich fühle mich von Herausforderungen ja nicht mehr abgeschreckt, sondern – herausgefordert! Natürlich könnte es schwierig werden, dafür Zeit zu finden, jetzt, wo ich mit meiner romantischen Krimiserie so erfolgreich bin und drei Folgen im Jahr schreibe.
Aber das ist alles Zukunftsmusik. Im Augenblick genieße ich es, hier zu sitzen, die frische Luft einzuatmen und dem jungen Mann zu lauschen, der mit seiner Gitarre alte Songs neu interpretiert. Hören Sie auch so gerne Straßenmusikern zu?
»Wo ist denn die Lesung heute Abend?«, frage ich Heidi. »In der großen Buchhandlung in der Princes Street, in der wir vorhin waren?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ein bisschen außerhalb. Im Stadtteil Morningside. Wir können den Bus nehmen oder hinspazieren. Dürfte nicht mehr als eine gute halbe Stunde dauern.«
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