»Du denkst die Dinge nicht zu Ende, Ralle«, tadelte ihn der Hirt und straffte seinen Oberkörper unter dem weißen Hemd. »Selbst wenn der König in der Situation die Kündigung zurücknimmt, sowie er wieder in der Stadt ist, wird sein Anwalt den Vorgang für null und nichtig erklären. Sein Mandant habe nur unter Druck, nach Kidnapping, zugestimmt und so weiter. Zudem wird er Doro verdächtigen, hinter der Sache zu stehen. Und du willst doch nicht im Ernst, dass sie deine Schwachsinnsaktion ausbaden muss?«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«, bellte Ralle ihn beleidigt an.
»Was haltet ihr von Gift?«, schlug Valery vor und in ihren Augen zeigte sich ein seltsames Glitzern. »Wenn ich die Andeutungen von Susi bei meinen letzten Nagelstudiobesuchen richtig deute, dann gibt es mehr Leid als Freud in ihrer Beziehung zum König. Ich könnte ihr – ganz unverbindlich – Möglichkeiten aufzeigen, wie sie König loswird. Ich kenne mich nicht nur mit allen möglichen Giften aus, ich weiß auch, wo man sie besorgen kann.« Sie lächelte unschuldig, ihr weißes Krägelchen strahlte, aber mir dämmerte plötzlich, was für ein verschlagenes Biest hinter dieser biederen Fassade lauerte, und ich fragte mich, ob es diese Kombination war, die ihre Bücher so erfolgreich machte.
»Das ist doch kompletter Unsinn«, bügelte der Hirt ihren Vorschlag ab. »Als ob Königs Tod die Kündigung rückgängig machen würde!«
»Das wäre nur Schritt eins. Schritt zwei und drei folgen auf dem Fuß. Habe ich in Frau Wuttkes drittem Fall sehr realistisch durchgespielt«, blaffte Valery.
»Das ist Fiktion, Valery, Fiktion!«, rief der Hirt so laut, dass die Gespräche am Nachbartisch verstummten. Schnell senkte er seine Stimme wieder: »Wir wollen einen Buchladen retten, keinen Mord begehen. Um den König anzugreifen, muss man ihn studieren, seine Schwachstellen finden. Was ist mit Geld? Wir alle wissen, wie sehr die Immobilienpreise in den letzten Jahren hier im Viertel explodiert sind. Verdient der König mit seinen Spielhallen wirklich so viel, dass er innerhalb von zwei Jahren drei Häuser in bester Lage kaufen kann? Oder arbeitet er nur als Strohmann? Und wenn ja, für wen?«
»Doro sagt, er hat das Haus bar bezahlt«, berichtete ich.
»Bar! Das stinkt doch nach Schwarzgeld«, tönte Ralle.
»Das Nagelstudio von Susi hat er auch bar bezahlt«, ergänzte Valery. »Susi sagt, der König hält nicht viel von Banken. Alles Verbrecher.«
»Recht hat er, was die Banken angeht!« Ralle nickte. »Aber der Spur des Geldes zu folgen, ist aufwendig und langwierig«, gab er zu bedenken.
»Man muss natürlich wissen, wo man ansetzt und wen man fragt.« Der Hirt verschränkte seine Arme im Nacken und lehnte sich zurück.
»Und so ein heller Kopf wie du weiß das natürlich«, zwitscherte Valery und kicherte giftig. »Beste Beziehungen in die Finanzwelt …«
Ich zog scharf die Luft ein und überlegte hastig, ob ich zur Entspannung der Situation schon meinen Trumpf ausspielen sollte. »Vielleicht«, unterbrach ich Valery. »Vielleicht gibt es …«
»Wartet, wartet, Leute, mir kommt da eine ganz andere Idee!« Ralle sprang vom Sitz auf und blickte aufgeregt in die Runde. »Wir bauen dem König Nacht für Nacht die Türen seiner Spielhallen mit Büchern zu. Dazu müssen wir lediglich die öffentlichen Bücherschränke plündern, die nutzen die meisten Leute eh nur, um Leseschrott loszuwerden. Ein paar Quadratmeter Bücher aus meinem Keller könnt’ ich selbst beisteuern.«
»Survival Band eins bis fünf, oder was?«, zündelte der Hirt, der bei Ralles Aufspringen nur durch beherzten Zugriff das Umkippen seines Wasserbechers verhindert hatte.
»Mir gefällt das«, konterte Valery. »Eine tolle Aktion für Social Media. Damit schaffen wir es auch hundertprozentig in die Zeitungen. Denkt mal an Schlagzeilen wie: ›Spielhallenbesitzer muss sich durch Goethes Gesamtwerk kämpfen‹ oder ›Drei Fragezeichen versperren Zockern den Weg‹.«
»Rechnet mal hoch, wie viele Bücher wir für die Aktion bräuchten«, warf der Hirt ein. »Selbst wenn du zwei Quadratmeter Survival-Krimis im Keller hast und wir alle Bücherschränke des Viertels leeren, es würde nicht reichen.«
Auch ich war skeptisch: »Königs Spielhallen schließen um 2 Uhr, wir müssten mitten in der Nacht anrücken. Parkplätze gibt es um die Zeit nirgendwo mehr. Wie sollen wir die Bücher abliefern?«
»Papperlapapp! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, wischte Valery meine Bedenken vom Tisch.
»Ich könnte einen Gabelstapler besorgen«, bot Ralle an.
»Ich sage euch, was passiert, wenn es uns tatsächlich gelänge, genügend Bücher für die breiten Glastüren der Spielhalle beizubringen«, unkte der Hirt weiter. »Der Turmbau vor Königs Türen würde ewig dauern, weil wir alle Bücherfreaks sind. In diesen Bücherschränken wird nämlich nicht nur Schrott abgeladen, in Wirklichkeit sind das wahre Schatzkammern. Und wir könnten unmöglich Bücher aufstapeln, ohne auch in die Bücher hineinzuschauen, oder? Wahrscheinlich wären wir bis in die Morgenstunden am Stöbern und Durchblättern.«
»Beim Bücherstapeln würdest du tatsächlich eines meiner Bücher aufschlagen und lesen?«, erkundigte sich Ralle misstrauisch.
»Na ja, ich denke eher an … richtige Entdeckungen«, redete sich der Hirt heraus.
»Sind meine Bücher etwa keine Entdeckungen? Nur weil ich sie selbst verlege? Nur weil ich nicht bei einem großen Verlag bin?«, grollte Ralle.
Ich kannte diese Diskussionen und fürchtete neuen Zwist. Zudem sah es so aus, als würde in der Runde jeder Vorschlag zu Staub diskutiert werden. Es war an der Zeit, endlich meinen einzigen Trumpf in den Ring zu werfen.
»Ich kenne eine echte Schwachstelle von König«, verriet ich und hatte mit dem Satz die Aufmerksamkeit aller. »Sein Hund, dieser fette Mops. Der König macht keinen Schritt ohne ihn. Jeden Morgen sitzt er mit ihm vor dem ›Centrale‹.« Bei Luigi trinke ich auch gelegentlich meinen Espresso. Deshalb weiß ich das und auch, was der König für ein Geschiss um den Hund macht. Fressie, Fressie, Küsschen, Küsschen und so weiter.
»Stimmt.« Ralle nickte.
»Davon hat Susi auch gesprochen«, fiel Valery ein. »Der darf sogar bei den beiden im Bett schlafen, was Susi widerlich findet.«
»Was schlägst du vor?«, wollte der Hirt wissen.
»Na ja«, setzte ich an, aber weiter kam ich nicht.
»Entführung, ist doch klar«, grätschte mir Ralle ins Wort. »Aber dafür müssen wir mindestens zu dritt sein. Einer, der den König ablenkt, einer, der die Leine durchschneidet, und einer, der den Hund packt. Der sollte einen ordentlichen Sprint hinlegen können. Kriegt das einer von euch hin?«
»Nordic Walking«, sagte ich und Ralle lächelte mitleidig.
»›Krimizunft entführt Hund für einen guten Zweck‹, die Überschrift ist auch nicht schlecht«, begeisterte sich Valery. »Wir könnten die Aktion filmen und daraus ein Kunstevent machen.«
»Könnte tatsächlich erfolgsversprechend und öffentlichkeitswirksam sein«, ließ der Hirt sich vernehmen. »Die Botschaft: Eine Buchhandlung im Viertel gehört einfach zur Grundversorgung. Dafür kämpfen wir! Ich mache das Live-Video und übernehme den Kontakt zur Presse und den Social-Media-Kanälen.«
Erst traute ich meinen Ohren nicht, dann glitt ein Lächeln über mein Gesicht. Eine gemeinsame Aktion anstelle unserer ewigen Sticheleien? Einigkeit, wo sonst nie Einigkeit herrschte? Mein Trumpf zog, und das verschaffte mir eine stille Befriedigung. Manchmal sind die leisen Töne erfolgreicher als die lauten.
»Wir müssen uns beeilen«, mahnte Ralle. »Je schneller, desto besser.«
Wir nickten. Schließlich kannten wir die deprimierenden Bilder aus Italien. Wir wussten, dass die Tage, in denen der König mit seinem Mops vor dem »Centrale« sitzen konnte, gezählt waren. Der Virus machte nicht vor Landesgrenzen Halt, die Krise würde auch unser Viertel erreichen und Straßen und Plätze leerfegen.
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