»Ich sehe, Sie haben es eilig, Herr Rettenbacher. Ich will Sie gar nicht aufhalten! Bis morgen!«
Ich schubse ihn aus der Praxis, schließe die Tür hinter ihm und öffne ein Fenster; einigen Patienten ist die Schamesröte ins Gesicht gekrochen und der Temperaturanstieg ist überdeutlich. Frischluft tut gut, vor allem den älteren Semestern. Ein weißhaariger Endsiebziger mit Burberry-Schal und aufgestelltem Kragen zögert kurz und rennt dann dem Rettenbacher hinterher. In Sachen Domina, nehme ich an. Kein Wunder, dass sich Herta teure Handtaschen leisten kann. Ist man als Domina eigentlich einkommensteuerpflichtig?
Der restliche Vormittag verläuft dann erfrischend normal: haufenweise Patienten. Wie das eben so ist zu Wochenbeginn. Jeder jammert über akute Schmerzen, die ihn seit Freitagabend plagen. Alle wollen schnellstmöglich untersucht werden. Keiner will warten. An Tag eins nach einem Leichenfund darf man allerdings den Kommunikationsfaktor nicht unterschätzen; manche Patienten werden eher vom Redebedürfnis als von Schmerzen zu uns getrieben. Die Praxis ist ein Nachrichten-Hotspot. Und heute geht’s hier zu wie in einem Bienenstock: Die Neuigkeit vom Toten an der Glan wirkt sich positiv auf die Patientenfrequenz aus. Jeder beteiligt sich am Tratsch, jeder hat eine eigene Version. Mit einem Ohr bin ich immer bei den Gesprächen, um nichts zu verpassen, aber die Ausbeute an wirklich Interessantem ist mager. Nur wilde Spekulationen. Die Fakten kenne ich schon von der Hermi.
Kurz vor dem Zusperren geht mir dann das Papier im Drucker aus und ich muss um Nachschub humpeln. Vorbei an der letzten Patientin im Wartezimmer; Frau Schneider. Ihre dunklen Knopfaugen blitzen freundlich und wach aus dem runzligen Gesicht. Eine liebe alte Dame, die schon so viel überstanden hat wie andere Patienten in drei Leben: Krebs, Unfälle, einen Darmverschluss. Im Alter ist sie noch dazu Diabetikerin geworden. Sie ist also Stammkundin und – was ihren Medikamentenverbrauch betrifft – ein Leckerbissen für die Pharmaindustrie. Momentan wartet sie auf ein Rezept. Mein Humpeln kommentiert sie nur mit einem freundlichen »Na?«
Ich schenk ihr ein tapferes Lächeln. »Hundebiss. Gestern, beim Laufen.«
Frau Schneider gehört zu der Sorte Mensch, mit der man binnen Minuten in ein angenehmes Gespräch eintauchen kann. Nicht aufdringlich, sondern irgendwie vertraut. Und während ich mit dem Drucker kämpfe, erzähle ich ihr vom Pechtl und seinem Othello.
»Der Pechtl Hubi war schon immer ein unangenehmer Zeitgenosse«, seufzt sie am Ende meiner Story.
»Die Untertreibung des Jahrhunderts, Frau Schneider!« Zum hundertsten Mal schalte ich den Drucker ein und wieder aus. Schließlich Master-Reset: Stecker raus.
»Wissen Sie, ich kenn den Hubi seit seiner Kindheit. Ich hab ihn schon gekannt, als er noch Smolecek geheißen hat. Leicht hat er’s nie gehabt.«
»Smolecek?«, hake ich ein. »Ein slowakischer Name?«
»Tschechisch. Smola heißt auf Tschechisch Pech. Und die verkleinerte Form davon ist Smolecek.« Das interessiert mich. »Wieso hat der Pechtl früher Smolecek geheißen?« Im Nebenzimmer telefoniert Frau Doktor mit der Apotheke; Medikamentenbestellung.
»Der Hubi, also der Herr Pechtl, wie er seit 1945 heißt, ist in einem kleinen Dorf an der österreichisch-tschechischen Grenze aufgewachsen. Genau wie ich. Wir waren zwar keine direkten Nachbarn, aber unser Dorf war so klein, dass jeder jeden gekannt hat.«
»Aber … wenn der Pechtl seit 1945 einen deutschen Namen hat … dann ist er mit einem tschechischen Namen aufgewachsen?« Der Drucker piepst, blinkt und rattert. Jedenfalls funktioniert er nicht. Ist mir wurschtegal. Eigentlich sogar recht. Denn je länger sich der Drucker mit dem Rezept für die Frau Schneider Zeit lässt, umso mehr erfahre ich über den Pechtl, den Arsch.
»Die Familie Smolecek hat, genau wie die Familie Schneider, seit Jahrzehnten in dem kleinen Dorf gewohnt. Außer Weinbergen und Wald gibt es dort nicht viel. Das Dorf heißt übrigens Bratelsbrunn; also, so hat es geheißen. Seit 1945 heißt es Brezi …«
»Im Jahr 1945 wurden die Sudetendeutschen vetrieben, oder?«, frag ich.
Die Frau Schneider schaut mich an, nein, eigentlich schaut sie an mir vorbei und nickt langsam. Sie ist grad ganz weit weg, gedanklich. Dieses Mal ist es sie, die redet, nicht ich.
»Spätnachts sind sie gekommen, mit der Maschinenpistole im Anschlag. Zu acht sind sie in unser Haus herein, haben herumgebrüllt. Verschwindet, haben sie gerufen. Und dann haben sie uns eine Viertelstunde Zeit gegeben. Wir konnten nur mitnehmen, was wir am Leib gehabt haben. Meine drei Geschwister und ich, wir haben gar nicht verstanden, was da los war. Ich bin die Älteste, zehn Jahre alt war ich damals. Die Kleinen sind aus dem Schlaf gerissen worden. Aber die Eltern, die haben uns gepackt und zur Tür hinausgeschleift, es ist ja um’s nackte Überleben gegangen.« Sie atmet schwer, die Frau Schneider, und ich setz mich behutsam neben sie.
»Wir sind die ganze Nacht gerannt. Zuerst in den Wald hinein, und dann einfach nur weiter. Irgendwohin. Nur weg, sonst hätten sie uns abgeknallt.«
»Und der Pechtl?« Noch verstehe ich nicht, wo der Zusammenhang sein könnte zwischen ihrer Geschichte und dem Pechtl, der früher Smolecek geheißen hat. Die Frau Schneider sammelt sich und kommt gedanklich wieder zu mir zurück. Sie schaut mich an. »Alle Einwohner mit deutschen Vorfahren wurden im Jahr 1945 aus dem Dorf vertrieben. Ausnahmslos alle. Vertrieben oder erschossen. Nur wer mit einem Tschechen verheiratet war, durfte bleiben.«
Ich frag nicht nach, sondern lasse sie selber weiterreden. Sie gönnt sich nur eine kurze Pause, atmet tief durch.
»Der Hubi war ein lediges Kind von einer tschechischen Magd. Seine Mutter, die Smolecek Anna, war Magd bei einem großen Bauern. Mit dem hat sie sich ein Pantscherl angefangen; es hat eingeschlagen. Und wie das halt so war damals: eine ledige Frau, schwanger, und noch dazu vom Bauern, war eine Last. Also hat sie weg müssen vom Hof, zurück zu ihren Eltern. Und dort hat sie das Kind bekommen. Den Hubi. Er ist furchtbar gehänselt worden von den anderen Kindern. Ledige Kinder haben es damals besonders schwer gehabt. Und Jahre später, bei der Vertreibung, da ist der Smolecek Anna das alles zum Verhängnis geworden. Als Tschechin hätte sie eigentlich im Dorf bleiben dürfen. Aber wegen dem unehelichen Kind aus dem Verhältnis mit dem Bauern … Ihre ganze Familie durfte bleiben.«
»Und wann sind die Pechtls nach Salzburg gekommen?«
»So genau weiß ich das nicht. Meine Familie hatte Verwandte in der Salzburger Gegend. Bei denen durften wir unterschlüpfen. Und Sie können mir glauben: Die haben keine große Freude gehabt mit uns. So kurz nach dem Krieg, da hat niemand viel zum Leben gehabt. Lebensmittel waren knapp und alles andere auch. Dann steht da plötzlich eine Familie mit vier Kindern vor der Tür und braucht Nahrung und ein Dach überm Kopf. Aber der Hubi … Der ist ohne seine Mutter hier angekommen. Warum es ihn ausgerechnet in dasselbe Dorf verschlagen hat wie uns … vielleicht Zufall. Jedenfalls war er knapp sechs Jahre alt und mutterseelenallein. Ich hab ihn dann aus den Augen verloren, aber ich glaub, irgendeine Familie hat ihn eine Zeit lang aufgenommen. Ich hab dann erst wieder von ihm gehört, als er volljährig war. Da hat er seinen tschechischen Namen schon längst eingedeutscht gehabt. Smole – Pech. Smolecek – kleines Pech. Pechtl.«
Clever. Und erschreckend zugleich, wie ein Name so uneingeschränkt zu einem Menschen passen kann. Das Pech war von Anfang an ständiger Begleiter im Leben vom Pechtl. Dass er von einem Bauern und dessen Magd gezeugt wurde, war sein allererstes Pech.
Frau Schneider steht auf und streckt die Hand nach dem Rezept aus, das der Drucker jetzt gnädigerweise doch noch ausgespuckt hat.
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