Deutsche Vertreter waren in der ersten Konferenzphase bis zur Übergabe des Vertragsentwurfes am 7. Mai nicht anwesend. Damit signalisierten die Sieger, dass an der Verantwortung Deutschlands für den Beginn des Krieges kein Zweifel bestand. Die völkerrechtswidrige Verletzung der belgischen Neutralität war eine Schuld, die die Sieger für erwiesen hielten. Ebenso herrschte Einigkeit darüber, dass der U-Boot-Krieg gegen geltendes Kriegsrecht verstoßen hatte. Die Entschiedenheit, mit der die Sieger daran festhielten, nicht mit den Deutschen zu reden, spiegelte auch ihre Furcht, die mitunter täglich mühsam errungene Einheit könne in einem mündlichen Austausch mit den früheren Gegnern bröckeln. Und in diesem Punkt täuschten sie sich nicht, wie aus den Aufzeichnungen des deutschen Außenministers Brockdorff-RantzauBrockdorff-Rantzau, Ulrich von hervorgeht. Es war seine erklärte Absicht, die Sieger gegeneinander auszuspielen, um mit ihnen in Verhandlungen zu treten und die Bedingungen für Deutschland zu verbessern.76
Die Konferenz vom 18. Januar bis zum 28. Juni 1919 kann in zwei Phasen unterteilt werden: Die erste Phase, in der die Alliierten miteinander verhandelten, dauerte bis zum 7. Mai 1919, also bis zur Übergabe des Vertragsentwurfes an die Deutschen. Diese Phase wird offiziell als »Präliminarfriedenskonferenz« bezeichnet. Die zweite Phase begann nach dem Eintritt in den ausschließlich schriftlichen Meinungsaustausch mit den Besiegten, ab diesem Zeitpunkt spricht man vom »Friedenskongress«. Tatsächlich bestand aber zwischen beiden Phasen kein Unterschied. Insgesamt waren über 10 000 Personen an den Beratungen beteiligt, allein die Delegation der USAUSA zählte mehr als 1000 Personen. Das wichtigste Organ war der Oberste Kriegsrat, der spätere Rat der Zehn. Er setzte sich zusammen aus je zwei Vertretern (dem Regierungschef und dem Außenminister) FrankreichsFrankreich, GroßbritannienGroßbritanniens, ItaliensItalien, JapansJapan und den Vereinigten StaatenUSA.77 Der Rat der Zehn legte die Grundinhalte des Friedensvertrages fest, er war der eigentliche Herr des gesamten Verfahrens.78
Am 24. März 1919 wurde der Rat der Zehn durch den Rat der Vier ersetzt, dem nur noch die Ministerpräsidenten der drei großen europäischen Siegermächte angehörten sowie der Präsident der USAUSA, Woodrow WilsonWilson, Woodrow, und natürlich die Dolmetscher. Die Großen Vier kamen gewöhnlich zweimal am Tag zusammen, in ernsten Krisen auch sonntags. Ab und zu trafen sie sich in ClemenceausClemenceau, Georges Büro im Kriegsministerium, meistens jedoch in WilsonsWilson, Woodrow Arbeitszimmer, insgesamt für 148 Sitzungen.79 Die Großen Vier versprachen sich eine reibungslosere Koordination, eine bessere Geheimhaltung sowie schnellere Entscheidungen; vor allem schwächten sie den Einfluss der Militärs, die nur noch auf Einladung als Ratgeber gehört wurden. Die Außenminister der vier Mächte sowie die japanischen Vertreter waren in einem neuen Rat der Fünf für die Fragen zuständig, die der Rat der Vier ihm überantwortete.80 Bereits einen Monat später, am 24. April, nahm der italienischeItalien Präsident OrlandoOrlando, Vittorio Emanuele nicht mehr an den Gesprächen teil. Nach einem großen Eklat verließ er ParisParis und kehrte erst im Mai an den Verhandlungstisch zurück, im Juni 1919 besiegelten Wahlen sein politisches Schicksal.
Unterhalb der Räte waren fast 60 Ausschüsse tätig, in denen Vertreter der Großmächte und der übrigen Siegerstaaten Informationen zusammentrugen, Probleme erörterten und Berichte verfassten. Ihnen gingen vielköpfige Beraterstäbe zur Hand. Fünf Kommissionen wurden eingesetzt, die sich mit dem Völkerbund, Kriegsverbrechen, Reparationen, den großen europäischen Wasserstraßen und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) befassten. Den Ausschüssen kam bisweilen erhebliche Bedeutung im Hinblick auf Einzelheiten der inhaltlichen Gestaltung sowie der endgültigen Formulierung zu. Besonders deutlich zeigt sich das in dem am 25. Januar 1919 eingesetzten Ausschuss, der sich mit den Reparationen befassen sollte. Obwohl seine Aufgabe nur darin bestand, die deutsche Zahlungsfähigkeit zu prüfen und die zu zahlenden Leistungen zu erörtern, wurde der umstrittene Artikel 231, der sogenannte Kriegsschuldartikel, in diesem Gremium formuliert.81 Vertreter der anderen zu den Siegermächten zählenden Staaten wie BelgienBelgien, PolenPolen, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen oder die TschechoslowakeiTschechoslowakei wurden in den vom Zehnerrat eingesetzten Unterkommissionen vor allem in strittigen Grenzfragen angehört.82 Die Koordinierung der Tätigkeit der vielen Ausschüsse und die Zusammenfassung ihrer Ergebnisse stellte oftmals eine große Herausforderung dar.83
Die Konferenz fand unter großem Zeitdruck statt. In einem Monat verließen 300 000 amerikanische Soldaten Europa, so dass im August 1920 alle Truppen abgezogen sein würden.84 Das schwächte die Alliierten, die bislang noch drohen konnten, militärisch einzugreifen, wenn die Deutschen den Vertrag nicht unterzeichneten. Die französischen und britischen Soldaten waren müde – zwar wurden viele von ihnen als Besatzungstruppen nach Deutschland oder an neue Einsatzorte nach PolenPolen, RusslandRussland und in den Nahen und Mittleren Osten verlegt, aber ihr Wunsch, heimzukehren, ist aus Soldatenbriefen deutlich herauszulesen.85 Die Politiker wussten, dass ihre Truppen und die Zuhausegebliebenen eine Fortsetzung der Kämpfe nur mit sehr überzeugenden Argumenten akzeptieren würden. Die Menschen in den zerstörten Gebieten NordfrankreichsFrankreich und BelgiensBelgien warteten sehnsüchtig auf den Wiederaufbau, die Gläubiger forderten die Rückzahlung der Schulden. Die Erwartungen an die Friedensmacher waren immens: Die Menschen in der Heimat wollten schnell ihre zum Teil sehr angespannte Lage überwinden. Auch der Bürgerkrieg in RusslandRussland übte großen Druck aus, denn die Ereignisse ließen die Konferenzteilnehmer fürchten, dass der Bolschewismus auf die Staaten in Ost- und Mitteleuropa übergreifen könne, wenn die Konferenz keine schnellen und zufriedenstellenden Lösungen erarbeitete.
Zu guter Letzt gab es Ereignisse, die sich ohne Zutun der Siegermächte entwickelten, jedoch die Debatten berührten und Stellungnahmen erforderten: Als der Oberste Kriegsrat am 12. Januar 1919 zum ersten Mal zusammentrat, war PolenPolen bereits wieder neu entstanden, FinnlandFinnland und die baltischen Staaten EstlandEstland und LitauenLitauen befanden sich auf dem Weg in die Unabhängigkeit, ebenso wie die TschechoslowakeiTschechoslowakei, und SlowenienSlowenien, KroatienKroatien und SerbienSerbien hatten sich zu einem Königreich vereint.86 Diese Staatsgründungen zogen Territorialkonflikte nach sich, weil das von WilsonWilson, Woodrow versprochene Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht immer umgesetzt werden konnte.
Obwohl eine Vielzahl von Delegierten, Diplomaten, Beratern und Sachverständigen in ParisParis zusammenkamen, waren es vor allem drei Männer, die Entscheidungen trafen und die wichtigsten Kompromisse erarbeiteten. Die Großen Drei und ihre wichtigsten Berater waren grundverschiedene Persönlichkeiten. Der Sozialist ClemenceauClemenceau, Georges (1841–1929), im Krieg respektvoll »Tiger« genannt, war 1917 im Alter von 76 Jahren vom französischen Präsidenten PoincaréPoincaré, Raymond zum Ministerpräsidenten und Kriegsminister ernannt worden. Seinen Spitznamen verdankte er seinem Mut, denn er war zugleich kampfeslustig und unnachgiebig. Er hatte nicht nur mit eiserner Hand gegen Meuterer und Deserteure in der französischen Armee gekämpft, sondern mit ebensolcher Entschlossenheit gegen die Mittelmächte. ClemenceauClemenceau, Georges galt als Vater des Sieges, und er war entschlossen, in den Friedensverhandlungen den Sicherheitsbedürfnissen FrankreichsFrankreich oberste Priorität einzuräumen.
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