1930 berichtete S. Hellerström von einem Patienten, der drei Monate nach dem Auftreten eines Erythema migrans (wandernde Röte) eine Meningoenzephalitis entwickelte.
1941 beschrieb A. Bannwarth ein Syndrom der »chronischen lymphozytären Meningitis mit dem klinischen Bild der Neuralgie oder Neuritis«. Er unterschied drei Gruppen: Patienten mit intensiven Nervenwurzelschmerzen, jüngere Patienten mit Fazialislähmung und Patienten mit chronisch lymphozytärer Meningitis mit zerebralen Symptomen wie starken Kopfschmerzen und Erbrechen. Gemeinsam war allen, dass sie einen entzündlichen Liquor hatten. Typisch war auch, dass die heftigen Nervenschmerzen in der Nacht besonders intensiv waren. Die Symptome dieser Meningoradikuloneuritis schwanden erst nach Wochen oder Monaten. Trotz dieser Einsicht in den Krankheitsverlauf übersah er den Zusammenhang zwischen Zeckenbiss, Erythema migrans und Meningitis.
Bis in die Mitte der 1940er Jahre war das klinische Bild der typischen Erkrankungen von Haut und Nervensystem der heutigen symptomidentischen Lyme-Borreliose bekannt. Außerdem gab es vereinzelte Berichte über Gelenkerkrankungen, Myalgien, Müdigkeit und schwere Arthralgie, begleitet von Myokarditis. Die heute als charakteristisch geltenden Krankheitsbilder wurden jedoch nicht in einem ursächlichen Zusammenhang gesehen.
Selbst heute noch sind verschiedene Definitionen verbreitet. So spricht das Praxisnetz Kiel in Bezug auf das Zeckenrückfallfieber von Borreliose recurrens, die Universität Magdeburg bezeichnet die Lyme-Borreliose als Typhus recurrens, während das Bundesgesundheitsministerium das symptomidentische Rückfallfieber der Zecke als Typhuserkrankung bezeichnet, welches die Universitätsklinik Frankfurt in ihrem Archiv wiederum als Typhus recurrens beschreibt.
Ein großes Problem der modernen Medizin ist ihre Spezifizierung, die sich natürlich auch in der Benennung von Krankheiten, Erkrankungen, Syndromen und Symptomen niederschlägt. Vergleicht man die Ausgaben des »Klinischen Wörterbuchs Pschyrembel« der letzten vierzig Jahre, so schwoll deren Umfang und die Anzahl der Stichworte von Jahr zu Jahr an – Folge einer Benennungswut, vor der Hahnemann bereits vor zweihundert Jahren warnte. Heute geht man von über 20 000 Erkrankungen und Syndromen aus, und jedes Jahr kommen neue dazu. Aber das Wissen um deren Linderung oder gar Heilung nimmt stetig ab.
Auf meine Frage nach ihrem Leiden zählen meine Patienten immer eine Liste von klinischen Erkrankungen auf und verstehen oft nicht, warum ich nachfrage: »Was haben Sie denn wirklich?« Da heute der Borreliose hunderte von Symptomen zugeordnet werden, ist es zunächst wichtig, die Erkrankungssymptome unabhängig von der klinischen Krankheitsbezeichnung zu verstehen.
Da viele Krankheiten mit weitgehend ähnlichen oder den gleichen Symptomen ablaufen, ist es nicht wichtig, welchen Namen man der Erkrankung gibt, sondern welche Störungen wirklich vorliegen. Es ist für mich immer noch unverständlich, warum die Schulmedizin mit einer ausgefeilten Diagnostik arbeitet, wenn dann doch fast alle Erkrankungen mit nur wenigen Mitteln therapiert werden: meist mit Antibiotika, Kortison und Schmerzmitteln.
Symptomidentische Erkrankungen werden, vollkommen unabhängig von der vorliegenden »Diagnose«, sehr ähnlich oder sogar gleich behandelt.
Die Eigenschaften der Borrelien
Der Erreger der Borreliose erhielt seinen Namen Borrelia burgdorferi nach seinem Schweizer Entdecker Willy Burgdorfer, der das Bakterium 1981 in den USA entdeckte. Borrelien sind dem Erreger der Syphilis ähnliche, spiralförmige Bakterien, die etwa 10 bis 30 Mikrometer (µm, Tausendstel Millimeter) lang und etwa 0,2 Mikrometer dick sind und wenige, relativ große Windungen aufweisen; im Unterschied zu anderen Spirochäten lassen sie sich mit üblichen Färbemitteln gut darstellen.
Der Aufbau der Borrelien ist komplexer als jener der Syphilis-, Pinta- oder Frambösie-Spirochäten. Sie haben drei Hüllen, wobei die äußere Zellwand, ähnlich wie bei anderen Bakterienarten, aus einer schleimigen Schicht von Oberflächenproteinen (bakterielle Lipoproteine BLP) besteht. Diese schützt sie vor den T-Zellen des Immunsystems und wirkt wie eine Tarnkappe, die verhindert, dass Antikörper und Fresszellen sie als fremd erkennen. Bei gewöhnlichen gramnegativen Bakterien sind diese Oberflächenproteine nur in drei Genen verschlüsselt, bei Borrelien dagegen sind 150 Gene beteiligt, die es ihnen erlauben, ihre Erkennungsmerkmale fortwährend und augenblicklich zu verändern.
Borrelien sind in der Lage, ihre normale längliche Gestalt in eine Kugel umzuwandeln. Zudem zeigen Studien, dass sie in weiteren Formvarianten vorkommen können, die unter dem Oberbegriff Sphäroblasten zusammengefasst werden. Diese besitzen eine defizitäre Zellwand oder sind zellwandlos. In Studien wurde nachgewiesen, dass diese Formen sowohl intrazellulär als auch extrazellulär vorkommen können und in der Lage sind, sich trotz ihrer zellwandlosen Form zu teilen und sich auch wieder in komplette Formen zurückzuentwickeln. In dieser Form können Borrelien auch in Knorpelgewebe eindringen und sind damit für Antibiotika unerreichbar. In verkapselter Form bleiben sie mindestens zehn Monate lebensfähig.
Borrelien können an Körperzellen wie auch an Abwehrzellen andocken, sie können mit Hilfe von Enzymen ein Loch in deren Zellwand bohren, deren Kern abtöten und dann die Zellhülle als »Maske« benutzen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, von Immunzellen unerkannt zu bleiben. Sie kopieren Teile ihrer Gene, bauen diese dann in ihre Zellwand ein, zwicken diesen Zellwandteil ab und schicken diese Blebs im Wirtsorganismus auf Reisen. Sie manipulieren ihren Wirt durch die Ausscheidung von Peptiden und Stoffwechselabfallprodukten, wodurch sie ein für sich günstiges Milieu schaffen.
Außerhalb der Zellen ist ihr Lebensraum vor allem der Zwischenzellraum. Dieser besteht hauptsächlich aus den gallertartigen Substanzen (Knorpel, Gelenkschmiere, Augenflüssigkeit, Endothelialzellen 10 , Nervenmyelien, Narbengewebe). Deswegen sind sie, obwohl im Körper vorhanden, im Serum oft nicht nachweisbar.
Borrelien sind sehr beweglich. Mit Hilfe von Geißeln und einem dehnbaren Achsenfaden schrauben sie sich durch das Körpergewebe und die Körperflüssigkeiten. Auf diese Weise können sie den Körper durchwandern und auch in tiefere Gewebe eindringen, wo Antibiotika sie nicht erreichen. Die Spirochäten können alle Gewebe, Augen, Leber, Milz, Gelenke, Blase, Kapillaren und so weiter, durchdringen. Innerhalb von zehn Tagen nach der Ansteckung haben sie bereits die Blut-Hirn-Schranke überwunden, was nicht einmal weißen Blutzellen möglich ist. Borrelien benötigen für ihren Stoffwechsel kein Eisen, sondern verwenden stattdessen Mangan 11 . Sie können angeblich sowohl aerob als auch anaerob existieren, eine stark sauerstoffhaltige Umgebung ist aber für sie tödlich. Sie bevorzugen dennoch eine saure Umgebung und machen ihre Umgebung durch ihre Ausscheidungen sauer.
Borrelien gehen dorthin, wo Manganstoffwechsel erfolgt und verbrauchen das dort befindliche Mangan. Das sind schwerpunktmäßig die Gelenke (Sehnen, Knorpel und Knochen) und alles was mit Enzymbildung und Nerven zu tun hat, auch Rückenmark und Gehirn. Es gibt intrazelluläre Ruheformen, die kein Mangan verbrauchen, vor allem im Fett- und Bindegewebe. Möglicherweise können Borrelien mit dem Mangan im Blut gar nichts anfangen, sondern brauchen eine bestimmte Verarbeitungsstufe, was eine Ursache für ihre Wanderung in die Zellen sein könnte.
Da sie wenig Sauerstoff brauchen, um zu überleben, können sie sich in Knorpel, Narbengewebe, Nervensträngen, den endothelialen Auskleidungen der Blutgefäße sowie anderen wenig durchbluteten, sauerstoffarmen Geweben vor den Abwehrzellen verstecken.
Читать дальше