Als Hera ihre Rivalin derart verherrlicht sah, begab sie sich zu Okeanos und Tethys und erwirkte das Versprechen, dass Kallisto nie, wie die anderen Gestirne, wenn sie untergehen, das bläuliche Reich der Meeresgötter betreten dürfe. Seitdem ist der »Große Bär« dazu verdammt, unablässig um den Polarstern zu kreisen. Arkas wurde König in dem nach ihm benannten Arkadien und später ebenfalls als »Wächter des Großen Bären« an den Himmel versetzt.
Nun soll von Hermes, dem Götterboten und Seelenführer, erzählt werden. Zeus entflammte im Kylene-Gebirge für die Nymphe Maia38, verführte sie und zeugte so Hermes, den Gott der Beredsamkeit, der Künste und des Handels. Die Griechen glaubten ihn mit dem ägyptischen Totengott Anubis verwandt. Den Römern ist er Merkur vergleichbar und bei den Germanen deren Hauptgott Odin/Wodan .
Hermes, der morgens zur Welt kam, schlug am Mittag bereits die Leier und stahl abends dem großen Schützen Apollon die Rinder.
Schon am ersten Morgen langweilte er sich in der behüteten Wiege seiner schattigen Höhle, strampelte die Windeln von sich, hob eine Schildkröte als willkommenes Spielzeug auf und sprach zu ihr:
»Komm nur herein, denn draußen nähmest du noch Schaden! Lebend schützt dein Schild vor Schädlichem, doch sterbend tönt er von bezaubernder Ewigkeit.«
Flugs höhlte er dem Panzerinneren das Fleisch aus, fügte in die gebohrten Löcher Stäbe und bespannte sie mit sieben wohlklingenden Saiten. So entstand unter seiner kindlichen Hand die Leier, und er sang bezaubernde Lieder von seiner glorreichen Göttlichkeit.
Als Säugling stiehlt Hermes Apollons Rinder
Nicht lange genügte Hermes das Leierspiel. Da er auf andere Streiche sann, floh er im Schutze der Dämmerung aus der mütterlichen Grotte zu den Rinderherden der Götter in Thessalien. Fünfzig brüllende Rinder Apollons wählte er aus und trieb sie kreuz und quer bis an das nächtliche Ufer des Flusses Alpheios. Damit niemand die Spuren entdecke, flocht er aus Tamarisken, Myrten und Blätterwerk buschige Sandalen und verwischte damit rasch die Stapfen. Er schlachtete zwei Horntiere und opferte sie den Göttern über dem Feuer, verbrannte alles sorgsam, damit kein Beweis ihn verrate. Zwar erfand er das Feuer nicht, wohl aber die Technik, es aus Holz zu reiben. Die anderen Tiere wurden gefüttert und wohl verwahrt. Dann eilte er in der Morgendämmerung zurück in die heimatliche Höhle. Seiner Mutter entgingen diese Unverschämtheiten nicht, und sie hielt ihm vor, Apollon könne ihn binden und in die Unterwelt verdammen.
»Ha, davor ist mir nicht bange«, prahlte Hermes, »Letos Sohn mag mich nur aufspüren. Sollte er es tatsächlich wagen, sich mit mir zu messen, brech ich in Delphi seinen prächtigen Tempel auf und plündere Dreifüße, Becken, Gold und Gewänder, wie es mich gelüstet. Denn ich werde noch weit Größeres vollbringen!«
Nicht lange blieben Apollon der Diebstahl und der Täter verborgen. Zornig, die stattlichen Schultern in dunklen Wolken, stapfte er in die schattige Felsenkluft. Bei seinem Anblick stellte sich Hermes schlafend, zog Hände und Füße an sich und kroch unter die duftenden Linnen. Doch Phoibos ließ sich nicht täuschen und drohte mit furchtbaren Strafen, worauf Hermes blinzelnd erwiderte:
»Vortrefflicher Herrscher, sieh mich doch an! Erst gestern geboren, hab ich zarte Füße, und der Boden unten ist rauh. Mir liegt Schlaf am Herzen und die Milch meiner Mutter, habe Windeln um die Schultern und zittre nach wärmenden Bädern. Bedenke, wie spotteten die ewigen Götter über deine Anschuldigung, ein eben erst geborener Säugling hätte Kühe gestohlen!«
Zwar lächelte Apollon über so viel Dreistigkeit, aber er wollte die Rinder zurück. So packte er das Kind und trug es zum Olymp vor Zeus’ Richterstuhl, wo beide ihre Ansicht verteidigten. Hermes blinzelte unschuldig und zog die Windeln bis zu den Ohren. Laut lachte Zeus über den listigen Knaben und befahl Aussöhnung.
Hermes schenkte seinem Bruder die Leier; erst dadurch wurde Apollon zum Gott der Musik und der Musen. Der war darüber so entzückt, dass er nicht nur Hermes die Rinder überließ, sondern ihm auch als Zeichen der Heroldswürde einen Zauberstab schenkte, mit dem er alles in Schlaf zu versetzen und die toten Seelen in die Unterwelt zu führen vermochte.
Apollon, Hermes’ älterer Bruder, weiß als einziger Gott vom höchsten Ratschluss des Zeus durch Orakel; Wahrsagekunst ist Hermes verwehrt. Während der lediglich als Mittler und Bote tätig zu sein scheint, wirkt Apollon selbst für die Ordnung der Welt.
Hermes – sein Name kommt von ›Steinhaufen‹ – war ursprünglich wohl der Gott der Wege, der Wanderer und des Grenzgängers – auch zum Totenreich. Später gewann er mit Gewandtheit, List und Dreistigkeit Eigenschaften eines Tricksters, allerdings kaum boshaft wie beim germanischen Loki . Hermes gilt als der menschenfreundlichste der Götter, auch als Gott der Kaufleute und Betrüger. Er ist eng mit dem Gefolge des Dionysos verbunden: den Silenen und Satyrn – menschenähnlichen Wesen mit borstigem Fell, stets erigiertem Phallos und mit Pferde- oder Ziegenhinterbeinen. Die bekanntesten dieser Wesen waren Pan, Silenos und Marsyas.
Obwohl ein Gott, weidete Hermes einst die Schafe des sterblichen Dryops; denn er sehnte sich nach dessen schöngelockter Tochter. Nach der Hochzeit gebar diese einen seltsamen Sohn: bocksfüßig, doppelgehörnt, stets lachend und lärmend. Als die Mutter das wilde, bärtige Antlitz gewahrte, sprang sie schreiend auf und verließ ihr Knäblein. Doch Hermes war glücklich, wiegte seinen Sohn im Arm und brachte ihn zum Sitz der Himmlischen. Alle Götter fanden Gefallen an ihm, aber keiner mehr als Dionysos, und sie nannten ihn Pan, da ›alle‹, was pan heißt, sich seiner freuten.
Pan liebte es, in seiner arkadischen Heimat die weiten Gebirge zu durchstreifen und sich mit Nymphen zu tummeln. Auf weichen Wiesen, wo Hyazinthen und Krokus dufteten, spielte er schönere Lieder, als je ein Vogel im Frühling sang. Die Bergnymphen umtanzten ihn im innigen Reigen, und der struppig behaarte Gott mit dem rötlichen Luchsfell tollte und jauchzte in ihrer Mitte.
Ursprünglich war Pan ein Hirtengott. Wie ein geiler Bock besprang er die Ziegen und gewährte den Herden Fruchtbarkeit. Doch war er nicht nur der Freudvolle, sondern brachte auch Schrecken, wenn er in der Mittagshitze plötzlich die ruhenden Tiere aufscheuchte oder gar jemanden mit seinem fürchterlichen Schrei in kopflosen Schrecken, also in Panik, versetzte. Die Zahl seiner Liebschaften war groß und seine Begierde unersättlich. Weder Nymphen noch schöne Hirtenknaben waren vor seinen Nachstellungen sicher.
Wie so viele andere verliebte sich Pan in die Dryade Syrinx. Die Baumnymphe war bereits häufig lüsternen Satyrn entschlüpft, sie täuschte selbst Götter, so sehr glich sie Artemis, die sie in allem nachahmte. So weigerte sich Syrinx auch, ihre Keuschheit an den borstigen Pan zu verlieren und floh vor dessen Liebesschwüren. Doch Pan setzte ihr nach und erreichte die Fliehende am sandigen Strand des friedlichen Ladon, dessen Wasser ihre Flucht stoppten.
In höchster Not bat sie ihre Schwestern, die Schändung abzuwenden; und die Wassernymphen erbarmten sich ihrer. Als Pan bereits meinte, Syrinx gefasst zu haben, hielt er anstatt ihres biegsamen Leibes nur Schilf in den Händen. Lange beklagte der Gott, dass sich die Geliebte ihm durch Verwandlung für immer entzogen habe; doch als ein Windhauch über das Schilfrohr strich, hörte er ein sanftes Klagen. Berührt von ihrer zarten Stimme rief Pan:
»Was du mir flüsterst, wird mir bleiben!«
Er schnitt das Röhricht in verschiedener Länge, fügte es mit Wachs zusammen und nannte seine Flöte – also die Panflöte – Syrinx. Doch Pan galt nicht als Patron der Flötenmusik, sondern Marsyas, mit dem Pan oft verwechselt wird. Der Silen Marsyas hatte die Doppelflöte entweder selbst er- oder sie wenigstens gefunden. Denn Athena hatte sie zuvor voller Abscheu von sich geschleudert.
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