»So komme!«, rief Narkissos.
»Komme!«, echote die Nymphe.
»Was ist los mit dir, warum meidest du mich?«, fragte er, da er niemanden erblickte.
»Meidest du mich?«, schluchzte Echo.
»Tritt heraus, wir wollen uns hier vereinen«, schlug Narkissos vor.
Wie geheißen trat die Nymphe vor, jubelte: »Vereinen!«, und umarmte den Begehrten leidenschaftlich.
Doch er schüttelte sie schroff ab und flüchtete mit den Worten:
»Eher stürbe ich, als mit dir zu liegen.«
»Mit dir zu liegen!«, flehte die Verschmähte. Sie verwand ihre Liebe niemals, nahm fortan nichts mehr zu sich. Kummer zehrte an ihr, Echo magerte ab zu einem Schatten, bis zuletzt nur noch ihre Stimme übrig blieb. Sie haust nun in den Bergen, von keinem gesehen, doch von allen gehört.
So wie Narkissos die Nymphe kränkte, ging er mit allen seinen Verehrern um. Bis ein Verschmähter die Himmlischen anrief: Narkissos solle einmal selbst lieben, ohne den Geliebten zu erreichen. Die Götter erhörten ihn und fügten es, dass der Jüngling zu einem unberührten, strahlend klaren Waldsee kam. Als Narkissos sich über das Wasser beugte, um seinen Durst zu stillen, erblickte er im See einen Jüngling, dessen Körper aus Marmor gehauen schien. Hell leuchteten dessen Augen, die Haare – eines Apollon würdig – lockten sich um die stattliche Brust, wie Elfenbein schimmerten der Hals und das Gesicht von göttlicher Anmut. Narkissos bewunderte alles, worum er selbst zu bewundern war. Er gab unzählige Küsse, tauchte seine Arme ins Nass, um den ersehnten Hals zu umschlingen, doch das Spiegelbild zerging.
Selbst als Narkissos sich erkannt hatte, vermochte er sich nicht von seiner bezaubernden Schönheit zu trennen. Ganz in seinen Anblick versunken, schmachtete er, gab sich seufzend hin, war nicht mehr fähig zu essen oder sich nur für einen Augenblick von seinem Bilde zu trennen. Die Götter verwandelten ihn sterbend in eine Blume, die nun seinen Namen trägt, die Narzisse.
Die Nachkommen des Belos
Die blutige Hochzeit der Danaïden
Nach dem von Libye und Poseidon gezeugten Stamm des Agenor berichten wir jetzt von dessen Bruder Belos, der in Ägypten blieb und mit Anchinoë, einer Tochter des Nils, die Zwillinge Danaos und Aigyptos zeugte. Letzterem, der Ägypten seinen Namen gab, wurden genau fünfzig Söhne geboren, seinem mit gleicher Manneskraft ausgestatteten Bruder ebenso viele Töchter. Nun lag ja nichts näher, als eine Massenhochzeit anzuberaumen, doch Danaos durchschaute, dass der Bruder die Töchter in der Hochzeitsnacht zu ermorden gedachte und floh per Schiff nach Argos, wo er sich zum König erhob.
Doch Aigyptos gab nicht auf. Er sandte seine Söhne, sie belagerten Argos, um die Werbung zu erzwingen und dann die Töchter umzubringen. Als den Eingeschlossenen das Wasser ausging, musste Danaos, derart in die Enge getrieben, der verhassten Heirat zustimmen. Aber er drehte den Spieß um und hieß seine Töchter, eine Nadel im Haar zu verstecken. So geriet die Hochzeitsnacht zum Massaker, denn sämtliche Danaïden durchbohrten das Herz ihres Gatten mit der dolchartigen Waffe.
Lediglich die Jüngste, Hypermnestra, brachte es nicht fertig, ihren Freier Lynkeus (II) zu erstechen und verhalf ihm zur Flucht. Deshalb blieb sie von der Strafe verschont, die die Totenrichter über die Danaïden verhängten: Bis ans Ende aller Tage haben sie im Hades Wasser in durchlöcherten Krügen herbeizuschleppen. Zu Lebzeiten gelang es Danaos’ Töchtern dennoch Ehemänner zu finden, die sich auf die mörderischen Aussichten einer Brautnacht mit ihnen einließen – ihre glücklicheren Nachkommen nannten sich Danaër.
Für Hypermnestra und Lynkeus (II) führte das, was unter düstersten Vorzeichen begann, doch noch zu einem glücklichen Ende. Ihre Enkel Akrisios und Proitos teilten sich nach langem Streit die Macht, wobei der letztere mit seiner Gemahlin Stheneboia77 Tiryns erhielt, das die Kyklopen mit gewaltigem Mauerwerk befestigten.
Akrisios aber herrschte über Argos. Zwar erblühte das Land, dennoch wollte sich ein Thronfolger nicht einstellen.
»Darf ich trotz meines reifen Alters noch auf einen Sohn hoffen?«, befragte Akrisios das Delphische Orakel.
»Einen Sohn«, prophezeite Pythia, »bekommst du zwar nicht, dafür aber einen Enkel, dessen Hand dir den Tod bringen wird.«
Nächtelang grübelte Akrisios, wie er eine Schwangerschaft seiner Tochter für immer verhindern könne. Dann ließ er tief unter der Erde ein ehernes Gemach bauen, in das er Danaë und eine Wärterin einsperrte.
Doch Zeus hatte bereits ein Auge auf Danaë geworfen; und was für Sterbliche als unüberwindbar gilt, war dem Göttervater nur eine Verwandlung wert. In Gestalt eines Goldregens vereinigte er sich mit der Eingesperrten. Die Königstochter, wohl für jede Abwechslung dankbar, empfing dann Perseus.
Wie verblüfft war Akrisios, als Danaë in ihrem unerreichbaren Kerker ein Kind gebar. Wohl hielt den König trotz der unheilkündenden Weissagung die Liebe zu seiner Tochter davon ab, Mutter und Sohn zu töten. Oder ahnte er, ein Gott könne im Spiele sein? Er verschloss beide in einer Truhe und stürzte diese ins Meer. Wellen trieben den Kasten sanft bis Seriphos, wo beide nicht nur wieder Sonnenlicht erblickten, sondern im Palast des Polydektes vorerst gastliche Aufnahme fanden.
Perseus enthauptet Medusa
Hier wuchs Perseus zu einem stattlichen, aber auch ein wenig unbesonnenen Jüngling heran. Als nämlich der König Polydektes sich anschickte, um eine Prinzessin zu freien, bat er seine Bekannten um ein Pferd als Brautgeschenk mit den Worten:
»Seriphos ist zwar eine unscheinbare Insel, aber ich will im Kreise der wohlhabenden Werber nicht ärmlich dastehen.«
»Zwar habe ich kein Pferd«, prahlte da Perseus, »aber ich werde alles herbeischaffen, wonach es dich gelüstet, selbst das Haupt der Medusa.«
»Das wäre in der Tat eine Morgengabe, meiner würdig«, ging Polydektes verschlagen darauf ein, »doch leider kennen wir deinen Hang zu großen Worten.«
Das traf Perseus’ Ehrsucht. Ungestüm verlangte es ihn, die Gorgone einen Kopf kürzer zu machen. Doch wie sollte er das anstellen? Die Medusa war ein Ungeheuer von Frau mit Schlangenhaaren, Eberhauern, heraushängender Zunge und so abgrundtief hässlich, dass jeder, der sie erblickte, vor Entsetzen versteinerte.78 Aber etwas Hoffnung blieb, denn im Gegensatz zu ihren Schwestern, den anderen beiden Gorgonen, war sie sterblich.
Als hilfreich erwies sich die gekränkte Pallas79 Athena, die sich nun rächen konnte. Denn es war ihr Tempel, in dem Medusa mit Poseidon Liebe genossen und den sie damit besudelt hatte: ein unerhörtes Sakrileg, denn die Tempelprostitution war nahezu unbekannt und vor allem für eine jungfräuliche Göttin wie Athena eine tiefe Demütigung. Athena veranlasste Hermes, Perseus eine diamantene Sichel auszuhändigen, gab ihm einen glanzpolierten Schild und geleitete ihn selbst zu den Graien, da nur sie den verborgenen Unterschlupf der stygischen Nymphen kannten, die das Paar geflügelter Sandalen, den Zaubersack und Hades’ Tarnhelm aufbewahrten.
Die Graien, drei uralte hässliche Weiber, verfügten zusammen nur noch über einen Zahn und ein Auge, das sie abwechselnd gebrauchten.80 Da sie seit ewigen Zeiten das Geschehen in der Welt kannten, wäre jeder Versuch gescheitert, ihnen Geheimnisse zu entlocken, die ihren schwesterlichen Gorgonen geschadet hätten.
Deshalb passte der Held in seinem Versteck jenen Moment ab, als das Auge einer anderen übergeben wurde, eilte vor und raubte ihnen das glibbrige Sehorgan. Die Alten kreischten und schrien:
»Wo ist das Auge? Warum hast du Tattergreisin es fallen lassen?«
»Nein, du Schlampe hast es mir aus der Hand gerissen!«
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