In diese wohlgeordnete Stadt brach Dionysos mit seinem lärmenden Anhang ein, riss die Frauen in Raserei und verlangte göttliche Ehren. Der jugendliche Regent lehnte einsichtsvoll ab, den Sohn seiner Tante Semele als Gott zu verehren, und versuchte die Ausschweifungen der Frauen auf dem Berg Kithairon zu verhindern. Doch ohne Erfolg. Der greise Kadmos, der alte Seher Teiresias, sogar seine eigene Mutter Agaue gingen dionysisch aufgeputzt. Manche meinten, sie machten sich lächerlich. Um die Ordnung wieder herzustellen und zur Abschreckung, ließ der junge Herrscher die schwärmenden Frauen fangen und einsperren. Klug begründete er dem verwandelten Gott gegenüber lange Zeit sein Handeln. Aber Dionysos vertritt nicht die Logik, sondern das Wilde und Abgründige der Seele. Zuerst öffneten sich die Tore des Gefängnisses auf wunderbare Weise, dann traf der Gott mit seiner Frage Pentheus’ schwächste Stelle:
»Willst du sehen, wie es die Frauen im Gebirge treiben?«
Pentheus begehrte das Verbotene so sehr, dass er alle Vorsicht vergaß und sich in Frauenkleidern auf den Hochsitz einer Fichte schlich und die Ausschweifungen bestaunte. Aber seine Mutter und ihre Schwestern erspähten den Horcher. Trunken vom mainadischen Wahn und mit übermenschlichen Kräften begabt – zierliche Frauen waren imstande ausgewachsene Stiere zu zerreißen –, hielten die Thebanerinnen Pentheus für einen Löwen und zerfetzten ihn. Agaue trug dann voll Stolz den Löwenkopf nach Theben und prahlte mit der Trophäe, bis die dionysische Verblendung von ihr abfiel und sie in ihren Händen das Haupt ihres Sohnes gewahrte.
Dionysos und die Minyaden
Die größten Widerstände musste Dionysos in Griechenland überwinden, wie in Orchomenos beim König Minyas. Der hatte drei fleißige Töchter, Alkithoë, Leukippe und Arsippe, nach ihrem Vater die Minyaden genannt. Als die böotischen Frauen den Thyrsosstab67 nahmen und sich mit Efeu und Wein bekränzten, schalten die Minyaden:
»Schande unserem Geschlecht! Sittsamen Frauen geziemt es nicht, durch die Wälder zu streifen. Ihr Verworfenen! Kehrt ins Haus zurück und ehrt Athena mit eurem Tagwerk!«
Ihre Mahnungen blieben wirkungslos. Die drei Schwestern begaben sich betrübt an ihren Webstuhl. Da trat, in ein Mädchen verwandelt, der junge Gott zu ihnen mit den Worten:
»Das ganze Jahr über seid ihr Pallas’ Freude, so folgt nun auch den Pflichten des neuen Gottes, nichts Unanständiges wird geschehen.«
»Hör auf, du Scheinheilige!«, antwortete Alkithoë. »Dir ist doch jeder Vorwand recht, deiner Arbeit zu entkommen und dich dem Trunk und der Liebeslust hinzugeben. Wir wissen von den Orgien deines angeblichen Gottes. Dieser lüsterne Bengel soll Zeus’ Sohn sein? Ha! Der ist die frivole Leibesfrucht einer nymphomanischen Sterblichen, die für ihre Schändlichkeit noch den Namen des Göttervaters missbraucht!«
Erzürnt verwandelte sich Dionysos in einen Stier, sodann in einen Löwen, zuletzt in einen Leoparden. Dem Webstuhl der Schwestern entgrünte plötzlich Wein, prall mit Trauben behangen, das halbfertige Tuch trieb Efeublätter, in den Wollbehältern zischten Nattern, das ganze Haus erbebte und glühte in rötlichem Feuer. Vom Wahn besessen zerrissen die Minyaden Alkithoës Kind, schwärmten in die Nacht hinaus, was sie heute noch in ihrer verwandelten Gestalt tun, als Fledermäuse.
Auch in Tiryns verweigerten drei Schwestern dem Dionysos göttliche Ehren. Von ihrem Schicksal berichten wir aber erst, wenn wir die Taten von Bias und Melampus erzählen.68 Allerdings fand Dionysos auch gastliche Aufnahme wie in Athen und Kalydon, wo er, wie bereits erwähnt, Deïaneira zeugte.
Seeräuber entführen Dionysos
Einmal stand Dionysos auf einer Klippe in der schäumenden Brandung. Seine schwarzen Locken und sein Purpurgewand wehten im Winde. Etruskische Seeräuber sahen ihn, hielten den prächtig Gekleideten für einen Königssohn, ergriffen ihn und schleppten ihn auf ihr Schiff. Obwohl sie ihn schwer fesselten, fielen die Weidengeflechte zu Boden. Und der Junge im Purpurgewand lächelte die Räuber mit seinen dunklen Augen an. Da ahnte der Steuermann ein Unglück und rief zu seinen Gefährten:
»Welchen Gott wollt ihr Unglücklichen da fesseln? Selbst das größte Schiff vermag ihn nicht zu tragen. Ist es Zeus oder der silberbogige Apollon oder gar der Meergott selber? Dieser hier jedenfalls ist kein Sterblicher, sondern gleicht den Olympiern. Legt nicht Hand an ihn, setzt ihn sofort wieder ans Ufer, sonst zürnt er uns mit Wirbelstürmen.«
»Du Tor, hilf mir lieber das Segel zu spannen!«, fuhr der Schiffsführer ihn an. »Packt alle zu. Für den bekommen wir ein hohes Lösegeld. Ein Dämon hat ihn uns zugeführt.«
Der Mast wurde gehoben und das Segel gespannt. Der Wind straffte auch die Seile. Und als das Schiff in volle Fahrt kam, geschah Wunderbares. Wein rieselte über das Schiff. Die Seeräuber erschauderten. Plötzlich rankte sich bis oben ans Segel ein Weinstock, Trauben hingen üppig herab. Efeu umklammerte den Mastbaum, blühte und trug Beeren. Kränze umschlangen die Ruderpflöcke. Die erschreckten Seeräuber flehten den Steuermann an, sofort das Ufer anzulaufen. Da verwandelte sich Dionysos in einen wilden Löwen und brüllte entsetzlich vom vorderen Schiffsdeck. In der Mitte erschien eine zottige Bärin und bedrohte die Mannschaft. Die entsetzten Räuber flohen nach hinten an die Seite des weisen Steuermannes. Doch der Löwe packte den Kapitän, und die anderen sprangen, um dem Unheil zu entrinnen, ins Salzmeer und wurden Delphine. Diese Tiere blieben den Menschen freundlich gesonnen, da sie ehemals selbst Menschen waren. Dionysos hielt den Steuermann zurück und offenbarte sich ihm:69
»Kluger Steuermann, dir bin ich gewogen. Ich bin Dionysos, ein Sohn des Zeus.«
So erschienen zuweilen Götter und gaben sich Sterblichen zu erkennen.
Dionysos wird im Olymp aufgenommen
Nachdem Dionysos seinen Kult in einem Triumphzug70 auf der Erde eingeführt und Ariadne geheiratet hatte – doch davon erst, wenn wir Theseus nach Kreta begleiten –, begab er sich nach Lerna, um seine Mutter aus der Unterwelt zu holen. Da er keinen Eingang fand, bot sich Prosymnos an, ihm den Weg zu weisen, wenn Dionysos ihm eine Liebesnacht gewähre.
Der Gott versprach es, tauchte in den Alkyonischen See und führte Semele aus dem Totenreich. Obwohl bei seiner Rückkehr Prosymnos bereits verstorben war, machte Dionysos sein Versprechen wahr. Er schnitzte aus Feigenholz einen Phallos, steckte ihn in Prosymnos’ Grab und hockte sich selbst darauf. Jedes Jahr wurden Dionysos zu Ehren geheime Riten in Lerna aufgeführt, wobei niemals Phalloi gefehlt haben dürften.
Dionysos brachte seine Mutter unter dem neuen Namen Thyone71 in den Himmel, was Hera zähneknirschend hinnahm. Hier wurde er einer der zwölf Olympischen Götter. Denn Hestia, der Göttin des Herdfeuers, waren das Gezänk und die Intrigen in Zeus’ Umgebung schon lange zuwider, und sie machte Dionysos bereitwillig Platz. Außerdem wusste sie, man würde ihr in jeder Stadt, in jedem Haus stets einen freundlichen Empfang bereiten. Statt göttliche Herrschsucht zu pflegen, wandte sie sich lieber den Menschen zu.
Wegen seiner geschlechtlichen Freizügigkeit und seiner ekstatischen Feste galt Dionysos vielen, auch in der Nachfolge Nietzsches, als Widerpart zu Apollon. Aus den kultischen Festspielen zu Ehren des rauschhaftigen Gottes entstand das griechische Theater.
Wir verlassen nun Dionysos – begegnen ihm jedoch noch einige Male – und wenden uns wieder dem thebanischen Geschlecht zu.
Oidipus und Sieben gegen Theben
Aktaions unerlaubter Blick
Ein ähnlich tragisches Schicksal wie Pentheus erlitt auch der Sohn der dritten Kadmostochter Autonoë. Sie und ihr Mann Aristaios waren stolz auf ihren Sohn Aktaion, der, von Cheiron zu einem großen Jäger ausgebildet, ständig mit seinen Hunden die Wälder auf der Suche nach Wild durchstreifte. Dabei stieß er zufällig bei Gargaphie tief im Kithairongebirge auf jene Grotte, in deren Quell die Jagdgöttin Artemis mit ihren Gefährtinnen badete. Mit wut- und schamgerötetem Antlitz rief die Jungfräuliche aus dem Gebüsch, hinter das sie vor den männlichen Blicken geflohen war:
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