So fasste Byblis mit der Rechten den Griffel, mit der Linken die leere Fläche des Wachses. Und sie begann, hielt ein; sie schrieb, verwarf ihre Zeilen, zeichnete und tilgte, veränderte, schalt, lobte, legte die Tafel ab und nahm sie von neuem wieder auf. Endlich beendete sie den Brief, rief einen Diener herbei und befahl:
»Bringe dies meinem –«, sagte erst nach einiger Zeit »–Bruder«.
Als sie die Tafel übergeben wollte, fiel diese zu Boden. Obwohl das Siegel gebrochen war, sandte Byblis dennoch den Bediensteten, der den Brief Kaunos aushändigte. Nachdem der die Nachricht halb gelesen hatte, schrie er den Diener an:
»Scher dich fort, verruchter Bote, solange noch Zeit bleibt! Du hättest schon längst mit deinem Leben gebüßt, wenn dein Tod nicht unsere Schande offenbarte.«
Als der Diener die Worte des Kaunos überbracht hatte, erbleichte und erbebte Byblis. Doch mit ihrer Besinnung kehrte auch ihr Wahn zurück, und sie sprach zu sich selbst:
»Warum habe ich nur übereilt der Tafel diese Worte anvertraut? Ich hätte zuvor erforschen sollen, wie er gesonnen ist. Warnte nicht eine Gottheit mich, als die Tafel zu Boden fiel? Doch was ich getan, kann ich nun nicht mehr widerrufen. Jetzt gilt es durchzuhalten, denn wenn ich nun ablasse, wird es nur als brünstiges Verlangen abgetan.«
Byblis kannte kein Maß und ließ sich noch oft zurückweisen. Da kein Ende abzusehen war, floh Kaunos vor dem blutschänderischen Verlangen und gründete die nach ihm benannte Stadt Kaunos in Karien. Die Hoffnungslose verließ ebenfalls Milet und begab sich auf die Spur des geflüchteten Bruders. Ihr Ende ist umstritten. Entweder erhängte sie sich selbst, oder sie wurde infolge ihrer unstillbaren Tränen zu einer Quelle. Manche halten sie auch für die Namensgeberin der phönizischen Stadt Byblis.
Theben – die leidgeprüfte Stadt
Nachdem Europa, Agenors Tochter, von Zeus nach Kreta entführt worden war, machte sich ihr Bruder Kadmos von Phönikien auf, seine Schwester zu suchen. Bei seinen Wanderungen, die ihn bis nach Griechenland führten, begegnete er am Aresquell einer gewaltigen, männermordenden Schlange. Nach zähem Kampf gelang es Kadmos, das Untier zu töten. Auf Athenas Geheiß brach er dessen furchtbarem Kiefer die Zähne aus und säte sie in den Acker. Doch wie staunte er über die Frucht. Dem Boden entwanden sich über und über gepanzerte Krieger; die mähten mit ihren dröhnenden Waffen sich gegenseitig nieder, bis nur noch fünf blutige Schnitter, Spartiaten oder »die Gesäten« genannt, auf dem bitteren Felde standen.55
Kadmos erbaute hier mit der Hilfe der erdgeborenen Krieger die vielgepriesene Stadt Theben und lehrte die Griechen den Gebrauch der Schrift. Heute wissen wir, dass die Hellenen die Schrift tatsächlich von den Phönikern übernahmen.
Nur zwei Menschen, heißt es, wurden jemals mit einem vollen Glückshorn56 überschüttet. Neben Peleus war es Kadmos, der mit Harmonia, der Tochter von Ares und Aphrodite, eine Göttin freite. Die Verbindung des Kriegsgottes mit der Göttin der Liebe soll wohl zeigen, dass Liebe und Hass zwei Seiten einer Medaille gleichen, die zusammengehören, nach Harmonie drängen.
Aphrodite und Ares im Liebesakt gefesselt
Aphrodite war bekanntlich mit Hephaistos verheiratet. Doch der lahme Schmiedegott, ständig rußverschmiert und mit schwieligen Händen auf den Amboss hämmernd, genügte kaum der Liebesgöttin. Als Helios, der alles Irdische bescheint, Hephaistos hinterbrachte, dass seine Gattin ihn mit Ares betrüge, eilte der in seine Werkstatt: Er schmiedete einen Plan und ein unentrinnbares Netz, das er im Schlafgemach um die Pfosten befestigte. Die Fesseln waren fein wie Spinnengewebe und so täuschend gefertigt, dass nicht einmal Götter sie zu sehen vermochten. Dann gab der Schmied vor, nach Lemnos zu gehen.
Ares lag bereits auf der Lauer, eilte, von Liebeslust getrieben, zu der schönbekränzten Aphrodite und bedrängte sie: »Geliebte, komm zu Bett. Hephaistos ist schon auf und davon zu den Barbaren von Lemnos.« Aphrodite war keineswegs abgeneigt, und beide bestiegen das Lager und liebten sich so heftig, dass die Pfosten erbebten und das feine Netz freigaben. Also fielen die kunstvollen Fesseln; die Liebenden konnten sich weder erheben, noch ein Glied regen, blieben so in sich verstrickt auf peinliche Weise gefangen. Der Meister war in der Nähe geblieben, kehrte nun zurück und brüllte im Vorraum zu den Göttern:
»Vater Zeus und ihr anderen Götter! Kommt her und lacht. Soll ich ertragen, wie Aphrodite mich mit dem abscheulichen Kriegsgott betrügt? Seht nur, wie beide in Liebe verfangen sind, ha! Können sich nicht rühren und bleiben so lange gefesselt, bis du, Vater, mir alle Brautgeschenke zurückgibst, die ich dir für die Hundsäugige reichte. Deine Tochter ist schön, aber unstet.«57
Die Götter kamen ins Haus, traten vor das Bett, lachten dröhnend, wohl auch schadenfroh, und bewunderten Hephaistos’ Kunstwerk. Da sagte einer zum anderen:
»Der Krüppel Hephaistos, der Langsame, hat Ares, den schnellsten der Götter, gefesselt; dafür ist Ehebruchbuße fällig.« Und Apollon fragte verschmitzt den Hermes:
»Lägst du nicht gern selber hier mit der Schönen in Fesseln?«
»Hielten mich noch dreimal, hundertmal so viele Bande, und ihr alle glotztet mich an, wie sich Aphrodites Lenden um meine schlängen. Was, großer Schütze, gäbe es Reizvolleres?«
Wieder lachten die Götter schallend, was als »Homerisches Gelächter« sprichwörtlich wurde. Nur Poseidon beteiligte sich nicht, sondern bat: »Binde ihn los, ich bürge für ihn.« Als Hephaistos das nicht ausreichte, bot Poseidon an, selbst die Buße zu zahlen. Dann löste Hephaistos die Fesseln. Ares eilte sofort nach Thrakien, Aphrodite schlich nach Zypern zu ihrem Heiligtum, wo sie von den Chariten gewaschen und gesalbt wurde.
Allerdings wurde trotz der Fesseln in dieser Liebesstunde Harmonia gezeugt.
Hermaphroditos’ Verweiblichung
Später erhörte Aphrodite Hermes, den Argosbezwinger. Sie zeugten den Hermaphroditos, in dessen Gesicht sich Mutter und Vater spiegelten. Er wurde von den Nymphen des Ida erzogen, durchstreifte als Jüngling Kleinasien und konnte sich nicht satt sehen an all den Flüssen, Quellen und Seen. So kam er nach Karien zur Quelle Salmakis.58 Dass er die gleichnamige Nymphe antraf, war kein Zufall. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern verabscheute sie Artemis’ Jagdleidenschaft; und anstatt Wild zu erlegen, pflegte, salbte und kämmte sie sich, den ganzen Tag ihr Spiegelbild im Wasser betrachtend. Ein Geräusch schreckte sie auf. Sie hob den Blick, und was sie sah, verschlug ihr den Atem: Aphrodites Zartheit und Sanftheit vereint mit verführerisch männlichen Zügen. Begehren rötete ihr Antlitz, sie ordnete schnell die Falten ihres Umhangs, die Locken ihres Haares und tänzelte zu dem Jüngling:
»O göttliche Erscheinung«, rief sie, »selig die Mutter, die dich geboren, beglückt die Amme, die dir ihre Brüste gereicht. Sie können sich mehr preisen als deine Braut, wenn du eine dir würdig erachtest. Gibt es eine, so schenke ihr Recht in dieser Nacht mir.«
Verlegen wandte der Knabe den Kopf, denn von Liebe wusste er noch nichts. Salmakis drängte sich dicht heran, schlang die Arme um seinen herrlichen Hals und suchte ihm Küsse, unschuldige Schwesternküsse, wie sie versicherte, zu rauben.
»Genug. Wenn du nicht aufhörst, gehe ich«, wehrte er ab.
»Nein, Teuerster, verlass mich nicht. Ich belästige dich nicht weiter, aber bleib! Schau, wie herrlich das klare Wasser sprudelt. Als sei es nur geschaffen, um deinen Körper zu erquicken. Ja, spring hinein, und damit du dich nicht weiter zierst, ziehe ich mich zurück.« Mit diesen Worten ging die Nymphe und blickte sich oftmals um.
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