»Die sollen nie mehr sehen, was mir geschah und was ich selber tat!« Und auf die Frage, woher er den Mut zu dieser Schreckenstat nahm, antwortete er:
»Apollon war es, der mir das Schlimme zugefügt. Doch keine fremde Hand griff zu, es war die eigene. Verstoßt mich Unheilsmenschen! Schlagt mich tot, werft mich ins Meer!«
Weil Oidipus’ Söhne Eteokles und Polyneikes ihn ohne Schmerz und Tränen aus der Stadt ziehen ließen, verfluchte er sie und irrte, von seiner Tochter Antigone begleitet, als Bettler durch Griechenland.
Der erste Angriff auf Theben wird vorbereitet
Die Söhne der blutschänderischen Verbindung übernahmen die verwaiste Herrschaft über Theben und kamen überein, abwechselnd zu regieren. Der ältere Eteokles, der »mit dem wahren Ruhm«, begann zuerst zu herrschen, während Polyneikes, der »mit viel Streit«, ins freiwillige Exil ging. Nach Ablauf des verabredeten Jahres weigerte sich Eteokles, den Thron zu verlassen und verbannte den zurückgekehrten Bruder.75 Der begab sich nach Argos, um den dortigen König Adrastos um Hilfe zu bitten und sich den Freiern seiner Töchter anzuschließen.
Dieser Adrastos zögerte, seine Töchter zu verheiraten, weil er sie nach einem Orakel mit einem Löwen und einem Eber zu vermählen habe. Es ergab sich, dass am selben Tag auch der aus Kalydon geflüchtete Tydeus eintraf. Er geriet mit Polyneikes in Streit, und der Hausherr Adrastos eilte aus dem Palast, um die Kämpfenden zu trennen, und er begriff nun das Orakel. Denn Tydeus’ Schild schmückte ein Löwe und den des Polyneikes ein Eber. So wurde außer einer Doppelhochzeit auch der Feldzug gegen Theben vorbereitet. Beide Bräutigame verbrachten nur wenige Nächte mit ihren Angetrauten; dennoch zeugte Tydeus den Diomedes, den wir im Troianischen Krieg wieder treffen werden, und Polyneikes den Thersandros.
Ein Heer wurde ausgehoben und unter die Führung von sechs Helden gestellt. Adrastos selbst nebst seinem Neffen Kapaneus, seinem Vetter Hippomedon und dem arkadischen Bundesgenossen Parthenopaios stellten sich gemeinsam mit Polyneikes und Tydeus an die Spitze der Streitmacht. Doch Amphiaraos, der das siebente thebanische Tor angreifen sollte, weigerte sich, dem Ruf zu folgen. Als Seher wusste er, dass der Kriegszug scheitern und er nicht lebend zurückkehren würde. Außerdem bestand eine alte Feindschaft zwischen Adrastos und Amphiaraos, die einst zur Vertreibung des Adrastos geführt hatte. Später heiratete Amphiaraos Adrastos’ Schwester Eriphyle; und beide streitsüchtigen Männer einigten sich, um Blutvergießen zu vermeiden, fortan ihrem Urteilsspruch zu folgen.
Adrastos wusste um die Eitelkeit seiner Schwester; und er weihte den Thebaner Polyneikes ein, dem es gelang, Eriphyle mit dem Halsband zu bestechen, das Aphrodite einst Harmonia geschenkt hatte. Das Weitere war schnell vorbereitet. Adrastos erregte einen Streit, Eriphyle wurde aufgefordert zu schlichten, und deren Schiedsspruch verdammte ihren Mann zum Krieg. Noch bevor Amphiaraos in den sicheren Tod zog, zwang er seine Söhne Alkmaion und Amphilochos zum Schwur, seinen Tod nicht nur an den Thebanern, sondern auch an ihrer Mutter zu rächen.
Amphiaraos’ Prophezeiung, dass außer Adrastos niemand zu den Seinen zurückkehren würde, beunruhigte die Kämpfer. Eingedenk eines anderen Orakels suchten die Thebaner Kreon und Polyneikes den Oidipus in Athens Vorort Kolonos auf, um ihn für ihre Ziele zu gewinnen.
Seit Oidipus Theben verlassen hatte, führte seine älteste Tochter Antigone den ausgemergelten Blinden in seinen zerschlissenen Kleidern durch das Land. Nach einem weiteren Orakel sollte er auf Kolonos76, einem flachen Hügel mit den Heiligtümern des Poseidon und der Athena, sein Ende finden. Dort erschien Kreon, Iokastes Bruder, und wollte Oidipus nach Theben holen; denn er wusste, mit Oidipus’ Grab wäre die Stadt uneinnehmbar geworden. Da der Blinde sich weigerte, raubte Kreon dessen Töchter Ismene und Antigone. Als er aber Oidipus gewaltsam wegschleppen wollte, kam Athens Herrscher Theseus mit Gefolge, verhinderte das und befreite die Töchter.
»Nicht ahnt’ ich, was ich tat!«, rief Oidipus. »Wurde zum Vatermörder, heiratete sie, die mich gebar, zeugte mit meiner Mutter Söhne, Töchter, so wie die Götter es gefügt. Nicht ich hab’ das gewollt. Die Unsterblichen teilten mir das grausame Schicksal zu.«
Schließlich kam Oidipus’ Sohn Polyneikes, den sein Bruder Eteokles entmachtet und aus Theben vertrieben hatte, und bat den Vater, sich seinem Heer anzuschließen und nach Theben zurückzukehren. Dann wäre er stark genug, die Herrschaft wiederzugewinnen. Doch Oidipus verfluchte seine missratenen Söhne erneut und prophezeite, sie würden sich gegenseitig in den Hades bringen. Polyneikes kehrte bedrückt zum argivischen Heer zurück, dem er weder von seinem sicheren Tod noch von ihrer unabwendbaren Niederlage berichtete.
Bald war ein Donnerschlag zu hören, es folgten weitere. Plötzlich rief eine göttliche Stimme, dass sich allen vor Furcht die Haare sträubten: »O du da, Oidipus, was zögerst du? Zauderst schon zu lange.«
Oidipus rief Theseus und bat ihn, seinen Kindern die Hand zu reichen und unter Eid zu geloben, sie stets zu schützen; dann strich der Vater ihnen über das Haar und sagte:
»Kinder, ertragt es tapfer, allein Theseus darf das Verbotene schauen.«
Es donnerte nun so stark, als brächen die Eichen nieder. Oidipus ging dann weder durch einen göttlichen Blitz noch durch Wirbelstürme ins Jenseits ein, sondern der dunkle Grund der Erde tat sich auf; ohne Klage, ohne Schmerz und Krankheit wurde der vom Schicksal Gezeichnete entrückt. So kam Oidipus friedlich nach all dem Leiden entsühnt mit der Welt ins reine.
Als dann das argivische Heer vor die Mauern Thebens gezogen war, forderte Tydeus die Bedrängten zum Zweikampf heraus. Aber wer sich ihm auch stellte, unterlag. Schon bald wagte niemand mehr, sich mit diesem furchtbaren Helden zu messen. Da sandte Eteokles fünfzig Männer aus, die Tydeus einen Hinterhalt legten, aber kein einziger überlebte.
Die Stadt wurde eingeschlossen, und vor jedem der sieben Tore stand einer der sieben Helden mit seinen Kämpfern. Innerhalb der Mauern bewachte Eteokles selbst ein Tor, die übrigen sechs wurden von anderen Kriegern verteidigt. Dann begannen die Belagerer die Stadt zu stürmen. Der gewaltige Kapaneus erstieg eine Leiter und mordete auf den Zinnen der Stadt wie ein blutgieriger Löwe unter einer Herde Schafe. Fürchterlich wütete sein Schwert unter den Verängstigten, die Zeus um Hilfe anflehten.
»Ha«, brüllte Kapaneus, »nichts und niemand wird euch retten! Keiner widersteht mir. Nicht einmal ein Gott vermag mich noch aufzuhalten. Selbst wenn Zeus seine Donnerkeile zündete – euch kämen sie wie schwaches Kerzenflackern vor, verglichen mit dem Brand, mit dem ich Theben in Schutt und Asche lege.«
Der Göttervater machte den Prahlereien mit einem Blitz ein Ende, und das thebanische Heer wagte einen Ausfall. Melanippos gelang es, Tydeus tödlich zu verwunden, doch selbst im Sterben hieb der seinem Gegner noch das Haupt ab. Athena hatte seit jeher Tydeus bevorzugt und eilte mit einer Medizin zur Erde, um ihn unsterblich zu machen. Doch Amphiaraos durchschaute ihre Absicht, reichte dem sterbenden Tydeus Melanippos’ Kopf, worauf der Schreckliche mit letzter Kraft den Schädel spaltete und das warme Hirn schlürfte. Angewidert verschüttete die Göttin den Balsam, und Tydeus kam in die Unterwelt.
Nachdem die beiden mächtigsten Kämpfer gefallen waren, vermochten die anderen Heerführer den Thebanern nichts mehr entgegenzusetzen. Einer nach dem anderen fiel auf dem Schlachtfeld. Als Amphiaraos sah, dass seine Vorhersagen eintrafen, wandte er seinen Streitwagen zur Flucht. Zeus hatte Mitleid mit dem Seher und ersparte ihm die Schmach, mit einer Wunde im Rücken zu sterben. Noch bevor ein Speer ihn tötete, spaltete der Donnerer die Erde: Amphiaraos fuhr in die Unterwelt und ward nie wieder gesehen. Einzig Adrastos entging dem Gemetzel.
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