Nathanael ist vor diesem Hintergrund gleichzeitig Wissenschaftler und sein eigener Proband, der Clara gleichsam als Publikum nutzt und ihr seine Träume und Ahnungen berichtet und sie gleichzeitig auch noch deutet. Darüber hinaus geht es Nathanael aber auch darum, Clara von seinem religiösen Weltverhältnis zu überzeugen, d. h., »Claras kaltes Gemüt dadurch« zu entzünden. Diese Überzeugungsabsicht gilt aber auch für Clara: Zwar vermeidet sie es weitgehend, sich gegenüber der »mystische[n] Schwärmerei« ihres Verlobten »auf Widerlegung einzulassen« (22/[21 f.]), weil sie darum weiß, dass Glauben und Wissen in den von beiden ausgetragenen Formen sich durch den ›zwanglosen Zwang des besseren Arguments‹ nicht vermitteln lassen. Gleichwohl sucht sie dem Treiben ihres geliebten Nathanael Einhalt zu gebieten, wenn er erneut über die Objektivität des dämonischen Prinzips reflektiert, das ihn in der Misshandlung des Coppelius erfasst habe. Sie wiederholt allerdings schlicht ihre Psychologisierung aus dem oben zitierten Brief, was nur erneut an Nathanael abprallen kann; der Glaube – in welcher Form auch immer – lässt sich und seine Überzeugungen nicht psychologisieren, er kann und darf dies auch nicht, zerstörte er damit doch jeglichen Anspruch auf die Wahrheit und den damit verbundenen Anspruch auf Normativität.
Neben dieser eher kontraproduktiven Reproduktion ihres Standardarguments, das Nathanael nur stets wütender macht, unterlaufen ihr andere Ungeschicklichkeiten in der Begegnung mit der religiösen Melancholie ihres Verlobten: So macht sie sich über einzelne Überzeugungen lustig, indem sie metaphysische Prinzipien zu Alltagsproblemen herabsetzt; außerdem bringt sie deutlich zum Ausdruck, dass sie Nathanaels Dichtungen, mit denen er seinen Überzeugungen ein Ausdrucksmedium bieten will, langweilig findet: Dabei wird jedoch deutlich, dass »[n]ichts […] für Clara tötender« war »als das Langweilige« (22/[22 f.]). Letztlich befiehlt sie ihrem Geliebten, eine größere Dichtung, in der dieser seine Ängste und Ahnungen über den gewaltsamen Tod der beiden in die für ihn prägendsten Bilder fasste, als »tolle[s] – unsinnige[s] – wahnsinnige[s] Märchen« (24/[25]), mithin als Produkt einer kranken Seele, ins Feuer zu werfen.
Diese ebenso verständliche wie unangemessene Reaktion Claras führt zu einem erneuten Streit, in dessen Verlauf Nathanael seine Verlobte als »lebloses, verdammtes Automat« (24/[25]) beschimpft und deshalb von Lothar zum Duell gefordert wird, das Clara nur mit knapper Not und der Androhung eines Selbstmordes abzuwenden vermag. Der Prozess der zunehmenden Verschärfung der religiösen Überzeugungen und damit der Pathogenese8 Nathanaels sowie der damit notwendig einhergehenden Eskalation der Kontroversen mit seiner vernünftigen und psychisch gesunden Geliebten hat damit einen ersten Höhepunkt erreicht, dessen tödliche Gefahren nur äußerlich abgewehrt werden konnten. Dies gelang u. a. deshalb, weil Nathanael durch die Bereitschaft Lothars und Claras, die Situation zu deeskalieren, besänftigt werden kann; besänftigt, jedoch nicht geheilt, wie der weitere Verlauf der Handlung zeigen wird. Der Konflikt zwischen Glauben und Wissen, die sich gegenseitig hervorbringen, ausschließen und als solche jedoch ebenso anziehen, kann und wird nur tödlich enden.
IV Pathologische Liebe und die moderne Wissenschaft
Auch im letzten Teil der Erzählung, die mit Macht auf den Tod des Protagonisten zusteuert, dient das komplex sich durchdringende Verhältnis von Glauben und Wissen der Handlung als Motor. Dabei scheint Nathanael bei seiner Rückkehr an seinen Studienort »G.« zunächst tatsächlich geheilt. Zwar war während seiner Abwesenheit das Wohnhaus, in dem er ein Studentenzimmer hatte, abgebrannt; seine Freunde hatten jedoch Bücher und weitere Habseligkeiten gerettet, so dass er das Studium unmittelbar fortsetzen kann, und zwar in einem Zimmer, das nahe der Wohnung seines Professors für Physik, d. h. der Naturwissenschaften, Spalanzani liegt.
Dass Nathanael geheilt scheint, eröffnet ausgerechnet eine erneute Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola, der ihm dieses Mal allerdings Brillen und Ferngläser anbietet. Allein dadurch, dass der der deutschen Sprache nur mäßig mächtige Glashändler die Brillen als Augen bezeichnet, »sköne Oke« (25/[27]), vermag er Nathanael zunächst tief zu verunsichern. Der in der Vielzahl ausgepackter Brillen eine unendliche Anzahl bunter Augen erblickende Nathanael scheint sein waches Bewusstsein zu verlieren, mithin eine fixe Idee zu verfolgen,9 und fleht schreiend um ein Ende des Augenspukes. Als Coppola die Brillen daraufhin einpackt und ihm Ferngläser anbietet, beruhigt sich Nathanael: »Sowie die Brillen fort waren, wurde Nathanael ganz ruhig und an Clara denkend sah er wohl ein, dass der entsetzliche Spuk nur aus seinem Innern hervorgegangen […]« (26/[28]). Auch nachdem Coppola ihm ein Fernglas verkauft und sich unter höhnischem Gelächter verabschiedet hat, das Nathanael als Spott über einen zu hohen Preis interpretiert, kommt er auf Clara zurück: »›Clara‹, sprach er zu sich selbst, ›hat wohl Recht, dass sie mich für einen abgeschmackten Geisterseher hält‹« (27/[29]). Und so scheint er mit Hilfe der Gedanken an Clara auch deren Überzeugungen übernommen zu haben.
Nathanaels Heilung bleibt jedoch eine scheinbare: Nicht nur ist jeder Versuch einer rationalen Erklärung seiner Ängste stets an die Person seiner Geliebten gebunden, an die zu denken ihm einzig Beruhigung vor den eigenen Ängsten verschafft. Auch bleibt diese Haltung zerbrechlich, weil sie durch äußere Einflüsse schnell unterminiert werden kann.
Es ist aber eben dieses mehr zufällig und um Coppola loszuwerden gekaufte »Taschenperspektiv«, also ein kleines Fernglas, das die zerstörerische Resthandlung in eigentümlicher Weise befördern wird. Mit Hilfe dieses Instruments zur Blickerweiterung ist es ihm nämlich möglich, die im Nachbarhaus wohnende Tochter Spalanzanis zu beobachten. Schnell erkennt Nathanael mit seinem erkenntniserweiternden Augenglas, dass Olimpia, so der Name jenes Mädchens, von ausgewählter Schönheit ist, die den Beobachter magisch anzieht.
Die Instrumente einer naturforschenden Aufklärung können, so zeigen diese Passagen der Erzählung, unter bestimmten Bedingungen, nämlich bestimmten psychopathologischen Voraussetzungen derer, die sich ihrer bedienen, zum Mittel einer Verdunklung und Krankheitsverschärfung werden. Dass solche Prozesse in kürzester Zeit vonstattengehen können, weil sie auf weltanschaulich oder pathologisch empfängliche Seelen treffen, dokumentiert der Text anschaulich: Schon wenige Zeilen nach der letzten rettenden Erinnerung an Claras Vorwürfe der Geisterseherei, in denen die tagelangen Beobachtungsversuche Nathanaels geschildert werden, heißt es:
»Olimpias Gestalt schwebte vor ihm her in den Lüften und trat aus dem Gebüsch, und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen, aus dem hellen Bach. Claras Bild war ganz aus seinem Innern gewichen, er dachte nichts, als Olimpia […].« (27/[30])
Mit der Verdrängung Claras aus seinem Herzen und seinem Bewusstsein ist das Schicksal des liebestollen Nathanael allerdings besiegelt. Wendet sich der überzeugte Glaube von der vernünftigen Welthaltung vollständig ab, dann gebiert er Ungeheuer, die er nicht mehr zu beherrschen vermag. Dass aber diese Aufklärung durch Spott, Überheblichkeit und autoritäre Ablehnung alles Übersinnlichen jene Voraussetzung für eine hemmungslose Hingabe an die metaphysischen Sehnsüchte des Menschen allererst schuf, ohne dies zu beachten, wird ihr von Hoffmann in Rechnung gestellt.10 Nathanaels Liebe zu Olimpia, Produkt scheinbar reiner Beobachtung, in Wahrheit jedoch narzisstischer Selbstbespiegelungen (vgl. Neymeyr 1997), ist ebenso Ausdruck wie Beförderung seiner Krankheit zum Tode (vgl. Schmidt 1981).
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