Die Rolle der Minderheiten während des Osmanischen Reichs sei hier ausgeklammert, da diese zwar zu den historischen Ursachen der multiethnischen Gesellschaft, jedoch nicht zu den Variablen der aktuellen politischen Situation zählt.
Konflikt Nr. 2 betrifft die Gegensätze und unterschiedlichen Ideologien des kemalistischen Nationalstaats und des sunnitischen Islam als gelebte Religion der Bevölkerungsmehrheit und des Anspruchs des Islam als universale Moral und Lebensphilosophie. Dieser Konflikt wurde durch Politik und Gesetzgebung der AKP-Regierungen abgeschwächt und die Interessen der Muslime in Staat und Gesellschaft legalisiert. Dennoch bleibt zum einen der Verfassungsgrundsatz der Republik Türkei als demokratischer, laizistischer Staat, welcher dem Islam als „Staatsreligion“ einen Riegel vorschiebt, zum anderen die Interessen und der Widerstand der nun benachteiligten Kemalisten und des westlich orientierten liberal-fortschrittlichen Bildungsbürgertums. Dabei entstehen Wechselwirkungen und Schnittmengen mit Konflikt Nr. 1.
Der Konflikt Nr. 3 zwischen den ländlichen Eliten und dem industriellen Unternehmertum hat sich mit dem Ausbau der Wirtschaft in allen Sektoren (produzierende, verarbeitende und Dienstleistungsbetriebe) weitgehend nivelliert. An seine Stelle ist der Interessengegensatz zwischen dem „anatolischen Mittelstand“ (Handwerker, Ladenbesitzer, Bauern und weitere Kleinunternehmer) und den auf Gewinnmaximierung orientierten, international agierenden Großunternehmen, welche sich teilweise im Besitz großer ausländischer Konzerne befinden. Als Beispiel sei der Einzelhandel genannt. Die noch vor wenigen Jahren dominanten Familienbetriebe in allen Einzelhandelsbranchen werden, vor allem im städtischen Raum, von großen Handelsketten verdrängt. Hier finden sich sowohl Handelsketten türkischer Großunternehmer (Koç, Sabanci, Migros Türk, BİM A.Ş.) als auch europa- und weltweit agierender Unternehmen (METRO Group, Carrefour, Tesco). Auch deutsche Einzelhandelsunternehmen wie Deichmann, Media Markt, Bauhaus, Tchibo und Rossmann haben sich auf dem türkischen Markt etabliert.
Der Konflikt Nr. 4 zwischen Eigentümern, Vermietern, Arbeitgebern auf der einen und Mietern, Pächtern und abhängig Beschäftigten auf der anderen Seite besteht auch in der modernen Türkei. Hier ist auf klassisch kapitalistische Weise eine Anhäufung von Geld und Grundbesitz bei einer kleinen Gruppe von Unternehmern, Mittelständlern und Landbesitzern zu verzeichnen, einhergehend mit einer fortschreitenden Verarmung und/oder Verschuldung der unteren Mittelschichten namentlich Arbeitern, Angestellten und Kleinbauern. Besonders signifikant ist die Armut bei Arbeitslosen und Gelegenheitsarbeitern, da das türkische Sozialsystem Menschen, die nie versicherungspflichtig beschäftigt waren, keine Unterhalts- und Versicherungsleistungen bietet. Dieser Konflikt hat zum einen mit zu den hohen Wahlergebnissen der AKP und den großen Stimmenverlusten der zuvor etablierten Parteien, zum anderen zu einer enorm hohen Pro-Kopf-Verschuldung der türkischen Privathaushalte geführt.
Diese „Cleavage-Strukturen“ sollten sich im Parteiensystem der Türkei widerspiegeln. Ein funktionierendes Parteiensystem sollte diese Konfliktlinien durch Repräsentation der betroffenen Gruppen artikulieren und möglichst zum Ausgleich bringen. Lipset und Rokkan schlagen als Variablen zur Messung der Entscheidungsfindung, Artikulationsmöglichkeiten von Protest, der Möglichkeiten, Nutzen und Kosten von Parteienbündnissen sowie der Möglichkeiten, Bedeutungen und Grenzen einer Mehrheitsregierung vier Schwellen (Thresholds) vor.
Diese sind die Legitimation, die Einbindung, die Repräsentation und die Mehrheitsmacht. Aus der jeweiligen Ausprägung dieser 4 Variablen (high – medium – low) lässt sich das daraus resultierende Parteiensystem ableiten. Dieses werde ich für das Parteiensystem der Republik Türkei anwenden, um den Typ des Parteiensystems zu identifizieren.
1.5.2 Das Modell von Richard S. Katz und seinen Mitautoren
In Band 2 „European and American Experiences“ des von Richard S. Katz herausgegebenen Werks „Party Governments: European and American Experiences“ untersuchen Katz und seine Mitautoren die Parteiensysteme von acht ausgewählten Ländern. Der zentrale Begriff ist „Party Government“, also das Modell der repräsentativen Demokratie, in der die Parteien den Willen der Wähler repräsentativ und legitim in politisches Handeln umsetzen. Gleich zu Anfang weisen die Autoren darauf hin, dass ein reines „party government model“ ein Idealtyp, wenn nicht ein Mythos zur Legitimation einer repräsentativen Demokratie ist. In der Praxis, so Katz, wird die Legitimität einer Parteiendemokratie durch die Akzeptanz der Wahlen, den Umgang der Mehrheiten mit Minderheiten sowie die Kontrollmechanismen in Massendemokratien bestimmt.
Bezogen auf den Idealtyp des Party Government stellt Katz drei wesentliche Elemente heraus:
• freie Wahlen unter konkurrierenden Parteien
• jede Partei repräsentiert ein zusammenhängendes Ganzes
• die Partei, die die Wahlen gewinnt, kann tatsächlich, die Regierung kontrollieren 16
Da sich dieser Idealtyp in modernen Massendemokratien kaum findet, entwickelt Katz das Konzept der „partyness of government“ als Variable zur Messung des Grades, zu dem ein System die Anforderungen des Idealtyps „party government“ erfüllt 17. Mit dieser Variable lässt sich „ der Grad der Parteienkontrolle über den formalen Regierungsapparat messen“. 18
Die Messung der Partyness of Government erfolgt über 5 Komponenten oder Teildimensionen:
1. Der Grad der Entscheidungsmacht durch gewählte Politiker, also die direkt und indirekt ausgeübte Kontrolle durch Amtsinhaber
2. Der Grad der Entscheidungsfindung und -durchsetzung in den Parteien (policy-making)
3. Der Grad des Zusammenhalts, also der Parteidisziplin, bei der Umsetzung der Entscheidungen
4. Der Grad der Rekrutierung der Amtsinhaber durch die Parteien
5. Der Grad, zu dem Amtsinhaber als Repräsentanten der Parteien (identifiziert) und verantwortlich gemacht werden
Weitere Variablen sind die „Party Governmentness“ als Maß des Einflusses von Parteien auf gesellschaftliche Themen und Entscheidungen (social power) innerhalb des politischen Systems, sowie die „Partyness of Society“ als Maß der Rolle und des Einflusses von Parteien auf gesellschaftliche Themen außerhalb des politischen Systems, zum Beispiel auf Interessenverbände, Gewerkschaften, Medien, religiöse und soziale Bewegungen. Mit Hilfe dieser Variablen werde ich untersuchen, wie nah das Parteiensystem der Türkei dem Idealtyp des Party Government kommt, um welches Subsystem es sich handelt (z. B. Zweiparteiensystem oder pluralistisches System), und inwieweit die Parteien gesellschaftliche Themen bestimmen oder gesellschaftliche Gruppen repräsentieren.
1.5.3 Das Modell von Arend Lijphart
Das Modell von Arend Lijphart analysiert Muster majoritärer und konsensualer Regierungsformen. Dazu stellt Lijphart die „Idealtypen“ des Westminster-Modells und des Konsensmodells vor und versucht, die analysierten 21 Staaten zunächst anhand von 9 typischen, miteinander korrelierenden Dimensionen als eher majoritär oder eher konsensuale Systeme einzustufen. Lijphart untersucht auch die Unterschiede zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen und stellt neun Cluster demokratischer Regime vor. 19
1.6 Untersuchungsdesign
Das Untersuchungsdesign meiner Arbeit ist eine Fallstudie als qualitativer, linearer Forschungsprozess. Dabei sollen die folgenden Zwischenziele erreicht werden:
• Bildung eines Modells über die vermuteten Bedingungen und Zusammenhänge
• Aufnahme des aktuellen Wissensbestands
• Bildung der Hypothesen
• Operationalisierung, Bildung der Variablen
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