1.4 Zentrale Begriffe und Konzepte
Regierungssystem (Polity)
Institutionen, die an der Gesetzgebung und Verwaltung, sowie der Normenkontrolle beteiligt sind (Staatsorgane). Die Untersuchung dieser Dimension ist entscheidend, um den strukturellen und normativen Aufbau des Regierungssystems, also der Verfassung, der Verfassungsorgane und der Gewaltenteilung darzustellen 1.
Verfassung
Unter vielen Definitionen des Begriffs der Verfassung verwende ich die aus dem Gabler Wirtschaftslexikon: als die „Rechtliche Grundordnung eines Staates, Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtssätze über die Bildung, den Aufgabenkreis und die Organisation der obersten Staatsorgane, das Verhältnis der einzelnen Staatsorgane zueinander, die staatlichen Aufgaben, den staatsrechtlichen Aufbau des Staates und die Rechte des Bürgers gegen den Staat (Grundrechte).“ 2
In Artikel 5 der Verfassung der Republik Türkei vom 7. November 1982 werden die Grundziele und Aufgaben des Staates definiert:
„Die Grundziele und -aufgaben des Staates sind es, die Unabhängigkeit und Einheit des Türkischen Volkes, die Unteilbarkeit des Landes, die Republik und die Demokratie zu schützen, Wohlstand, Wohlergehen und Glück der Bürger und der Gemeinschaft zu gewährleisten, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse zu beseitigen, welche die Grundrechte und -freiheiten der Person in einer mit den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates und der Gerechtigkeit nicht zu vereinbarenden Weise beschränken, sowie sich um die Schaffung der für die Entwicklung der materiellen und ideellen Existenz des Menschen notwendigen Bedingungen zu bemühen.“ 3
Diese Verfassungsnorm stellt wichtige Grundsätze einer rechtsstaatlich und sozial ausgerichteten Demokratie dar, welche in allgemeiner Form aufgeführt sind. Zugleich ist zu erkennen, dass einige Ziele noch nicht erreicht oder in Entwicklung begriffen sind, z. B. die Beseitigung der „wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse“ und „Grundrechte und Freiheiten der Person“
Im Laufe der Arbeit wird zu untersuchen sein, inwieweit diese und andere Verfassungsnormen der politischen Realität entsprechen bzw. „gelebt werden“ und ob es einen politischen Konsens der wichtigen Parteien zu diesen Grundwerten gibt.
Wichtige Akteure des politischen Systems sind die Verfassungsorgane, darunter der Staatspräsident, die Große Nationalversammlung, der Nationale Sicherheitsrat, die Regionalverwaltung, die Gerichte sowie die Parteien, letztere als einer der zentralen Untersuchungsgegenstände dieser Arbeit.
Die politische Willensbildung (Politics)
Diese wird als erweitertes Politisches System betrachtet und dabei untersucht, welchen Einfluss die folgenden relevanten Akteure haben:
Parteien
Verbände
Gesellschaftliche Gruppen
Religionsgemeinschaften
Regionale soziale und ethnische Gruppen
Dabei werden vor allem institutionalisierte Akteure, kollektive Akteure und gesellschaftliche Subsysteme betrachtet 4, 5, 6.
Policy oder politischer Output
„Der politische Output, also das Ergebnis der formalen Verarbeitung des Willensbildungsprozesses oder die materielle Dimension von Politik, wird durch den Begriff Policy gekennzeichnet“. 7
Politisches System
Als politisches System betrachte ich „die Gesamtheit jener staatlichen und außerstaatlichen Einrichtungen und Akteure, Regeln und Verfahren […], die innerhalb eines abgegrenzten Handlungsrahmens von Politikstrukturen an fortlaufenden Prozessen der Formulierung und Lösung politischer Probleme sowie der Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher politischer Entscheidungen beteiligt sind“. 8
Das politische System setzt sich zum einen aus den oben beschriebenen Teildimensionen polity, politics und policy zusammen. Zum anderen umfasst es, je nach Untersuchungsinteresse, weitere Bereiche von Staat und Gesellschaft 9. Beispiele sind die Medien und politische Eliten ebenso wie Verbände und organisierte gesellschaftliche Gruppen.
1.5 Theoretischer Bezugsrahmen
Als theoretischen Rahmen für die Analyse des politischen Systems der Türkei verwende ich die Modelle von Lipset und Rokkan der Analyse von Spaltungsstrukturen und Konfliktlinien (Cleavage Structures) 10und das Konzept von Richard S. Katz über die Machtausübung von Parteien, deren Effektivität und deren gesellschaftlicher Akzeptanz in verschiedenen westlichen Demokratien. 11
Ergänzend versuche ich die Einordnung in die Typologien einer Mehrheits- oder einer Konsensdemokratie nach dem Modell von Lijphart. 12
1.5.1 Das Modell von Lipset und Rokkan
Ich habe mich für das Modell von Lipset und Rokkan entschieden, weil es die Möglichkeit bietet, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure und Subsysteme in ihrer wechselseitigen Beziehung zum Regierungssystem (Polity) darzustellen und zu analysieren und dabei eventuelle gesellschaftliche Konfliktlinien und ihre Auswirkungen zu identifizieren. Dieser Ansatz hat sowohl eine historische Dimension als auch eine systemtheoretische.
Lipset und Rokkan entwickeln – basierend auf dem AGIL-Schema Talcott Parsons – ein funktionales Modell der Gegensätze (Dichotomien) 13:
Abbildung 1: Das modifizierte A-G-I-L-Schema Lipsets und Rokkans
Anhand dieses Modells werde ich versuchen, die Konfliktlinien im politischen System der Republik Türkei herauszustellen und zu analysieren. Dazu verwende ich das modifizierte A-G-I-L-Schema eines Systems im Transformationsprozess der nationalen und industriellen Revolution 14.
Abbildung 2: Quadranten des A-G-I-L-Schemas für die Türkei
Die Republik Türkei zählt laut Definition der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zu den Schwellenländern. Sowohl die Wirtschaft als auch Politik und Gesellschaft befinden sich in einem Entwicklungsprozess. Dadurch treten jene Konfliktlinien, die während der Phase der Industrialisierung und der Bildung eines Nationalstaats im Vordergrund stehen, stärker zutage als in weiter entwickelten industriellen oder postindustriellen Gesellschaften. Dabei zeigen sich vier kritische Linien von Spaltungen:
1. Der Konflikt zwischen der zentralen, „Nation-bildenden“ Kultur und dem zunehmenden Widerstand der ethnisch, sprachlich oder religiös verschiedenen eingegliederten Bevölkerungsgruppen in den Provinzen und den Peripherien (siehe 1 in Abb. 2)
2. Der Konflikt zwischen dem zentralisierenden, standardisierenden und mobilisierenden Nationalstaat und den historisch etablierten Gemeinschaftsrechten der dominanten Religionsgemeinschaft (sunnitischer Islam), (siehe 2 in Abb. 2)
Diese beiden „Cleavages“ sind laut Lipset und Rokkan Produkte der „Nationalen Revolution“.
Die beiden anderen Konfliktlinien sind Produkte der industriellen Revolution:
3. Der Konflikt zwischen den Interessen der „Landbesitzer“ und der aufsteigenden Klasse der industriellen Unternehmer (siehe 3 in Abbildung 2)
4. Der Konflikt zwischen Eigentümern und Unternehmern auf der einen und Mietern, Landarbeitern, Hilfsarbeitern und Industriearbeitern auf der anderen Seite (siehe 4 in Abb. 2) 15
Der Konflikt Nr. 1 entstand mit der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 als zentralem, nationalen und kemalistisch-laizistisch orientierten „kleintürkischem“ Nationalstaat. Die Paradigmen der zentralistischen türkischen Nation setzten sich in weiten Teilen über die Interessen und Identitäten der Minderheiten wie zum Beispiel Kurden, Araber, Armenier und Griechen hinweg. Zu den Minderheiten zähle ich auch religiöse Minoritäten wie Aleviten und Christen, welche sich zum Teil mit den oben genannten ethnischen Minderheiten überschneiden. Dieser Konflikt dauert auch nach der Regierungsübernahme durch die AKP an und bestimmt relevante Bereiche der türkischen Tagespolitik.
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