«Vielleicht.»
«Dann steckst du in der Scheisse!», wiederholte er.
«Dann wird einige Zeit vergangen sein. Du wirst vielleicht schon nicht mehr hier sein.»
Der Stallknecht betrachtete sie nachdenklich. «Du würdest alles für sie tun», stellte er fest. «Wirklich alles.»
«Ja.»
«Warum?»
Blanka schaute ihn lange an. Dann schüttelte sie den Kopf.
Piet füllte zum dritten Mal die Waschmaschine. Zwei Waschgänge hatte er gebraucht, um alles zu reinigen, was er auf der einwöchigen Jagd getragen hatte. Zwei Kudus hatte er erlegt, noch jetzt schlich sich beim Gedanken daran ein stolzes Lächeln in sein Gesicht. Die Kudujagd war nichts für Draufgänger und Haudegen. Um bei Gefahr ihr Leben zu retten, zogen sich diese speziellen Antilopen klammheimlich ins Gebüsch zurück, anstatt, wie andere, Hals über Kopf davonzustürmen. Damit schlug die Stunde des besonnenen Jägers, zu welchen Piet sich zählte. Er brachte die Nerven auf, um reglos zu verharren, denn nun hing alles davon ab, keine Geräusche zu verursachen. Nur so erlebte man es möglicherweise, dass das Tier zuerst aufgab. Piet war dieser Moment in der einwöchigen Jagd drei Mal beschieden gewesen, zwei Mal hatte er getroffen. Die Kühltruhe in seinem Gästehaus in Mossel Bay würde zu Beginn der südafrikanischen Sommersaison gut gefüllt sein, Roos würde sich über die Grilladen freuen.
Beim Gedanken an sie verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Mit gerunzelter Stirn füllte er die Wäsche in die Maschine, es gab noch einiges zu tun vor der Wiedereröffnung der Pension. Während der Jagd hatte er abseits in einer einfachen Hütte in der Eastern Cape Region gewohnt, ohne Telefonempfang. Erst auf der Heimreise hatte er das Gerät wieder eingeschaltet und ihr sofort geschrieben. Das war am Vortag gewesen, und bis jetzt hatte er nichts von ihr gehört. Dass sie seit bald vierundzwanzig Stunden nicht schrieb, war etwas sonderbar, musste er sich eingestehen. Ihm schien es manchmal, das Mobiltelefon sei ihr verlängerter Arm und längst mit ihr verwachsen.
Piet wäre jedoch nicht Piet, der erfolgreiche Kudujäger, gewesen, wenn er sich leicht aus der Ruhe bringen liesse. Er war sicher nicht einer dieser Männer, die ihre Frau oder Freundin pausenlos überwachten und in jedem Augenblick wissen mussten, was sie gerade trieb. Piet war ein erfolgreicher Jäger, weil er geduldiger war als alle anderen, seien es Kudus, Jäger oder Ehemänner.
Einige Waschgänge, zwei grosse Steaks und drei Dosen Bier später senkte sich die Sonne über das flache Land im Westen. Er liess den Blick gegen Süden schweifen. Irgendwo dort war der Südpol, dann sehr viel Meer, ein kleiner Durchgang zwischen Russland und Alaska, dann der Nordpol, Skandinavien. Von dort aus wäre es ein Katzensprung nach Italien, wo sie zusammen den südafrikanischen Winter verbracht hatten. In dieser Zeit herrschte tote Hose in Mossel Bay, es lohnte sich nicht, das Gästehaus offenzuhalten. Früher hatte er jeweils über den Winter eine Arbeit angenommen. Für einen praktisch veranlagten, starken Mann gab es genug zu tun. So hatten sie sich manchmal Ferien im warmen Norden leisten können. In den Niederlanden, wo ihre Ahnen herkamen, oder am Mittelmeer. Mit steigendem Wohlstand waren aus den zwei Ferienwochen Monate geworden. Jedenfalls für sie, denn ihm selbst wurde die Zeit irgendwann zu lang. Auch diesen Sommer war sie vor ihm nach Europa gereist. Ein paar Wochen später hatten sie zusammen zwei Monate in Italien verbracht, in den Ausläufern der Alpen. Das war für Piet eine neue Erfahrung gewesen; noch nie hatte er sich so lange im Landesinnern aufgehalten. Nach einer Woche hatte er das Meer zum ersten Mal vermisst, nach zwei Wochen war er unruhig geworden. Piet konnte es kaum fassen: Er, der geduldigste aller Jäger, wurde unruhig ohne freie Sicht bis zu einem Horizont, wo Himmel und Wasser sich trafen. Während es Roos wohl war in ihrer Ferienwohnung, brauchte er für seinen Seelenfrieden gelegentlich einen Ausflug an den Strand. Wenn er sich hatte überzeugen können, dass die Weite hinter den Hügeln noch da war, war er für einige Zeit wieder sein ausgeglichenes Selbst.
Seine Ruhe war nun allerdings gefährdet, weil er nichts von ihr hörte. Sie war in Europa geblieben, als er zur Jagd heimgekehrt war, hatte noch ein paar Besuche im Sinn gehabt, bevor sie ihm in wenigen Tagen nach Hause folgen wollte. Inzwischen vermisste er sie nicht nur, weil er ihr gerne von seinem Jagderfolg berichtet hätte, sondern weil er tatsächlich begann, sich Sorgen zu machen.
An diesem Abend konnte er nichts mehr tun. Das wurde ihm klar, als er das vierte Bier öffnete. Morgen würde er weitersehen.
Als Beni am Montagmittag nach der Arbeit nach Hause kam, hatte er einen Bärenhunger. Montag bis Freitag war Annetta für seine Verpflegung zuständig, was ihr gehörig Punkte auf der Ertragsseite einbrachte. An diesem Tag war es allerdings still im Haus, als Beni über die Schwelle trat. Vielleicht würde er über Mittag tatsächlich seine Ruhe haben.
In der Küche empfingen ihn die bunten Papierchen, die seine Nana so gewissenhaft vollschrieb. Mittels eines rosaroten Zettels, der an der Glasscheibe in der Küchentür haftete, erfuhr er, dass sie zum Einkaufen nach Thusis gefahren war und sein Essen in der Pfanne zum Aufwärmen bereit sei. Ein gelber Zettel auf dem Tisch teilte ihm mit, das WC sei einmal mehr verstopft, und die Behebung des Schadens gehöre zu seinen Pflichten. Beni stöhnte. Dieser Posten hätte seiner Meinung nach weit höher zu seinen Gunsten gewichtet werden müssen, aber er versuchte erst gar nicht, sich gegen seine Nana durchzusetzen. Ein violetter Zettel am Geschirrschrank schliesslich unterrichtete ihn darüber, dass man immer noch nicht wisse, wer die Tote sei. Ausrufezeichen. Das wäre Beni ohnehin klar gewesen. Diese Mitteilung war ihr einen Zettel und sogar ein Ausrufezeichen wert gewesen, woraus er folgerte, dass sie sich in das Thema verbissen hatte und nicht so schnell wieder loslassen würde. Beni seufzte erneut. Das konnte ja heiter werden.
Mit grossem Appetit schaufelte er Hörnli und Gehacktes mit Apfelmus in sich hinein, während er sich den Informationen auf seinem Smartphone widmete. Niemand wusste etwas Neues. Nicht einmal Gerüchte, die vielleicht Hand und Fuss hatten, machten die Runde. Allem Anschein nach hatte sogar niemand eine Vermutung, was sich bei der Brücke zugetragen haben und wer die Frau sein könnte.
Nachdem er das Geschirr in die Maschine geräumt hatte, streckte er sich ausgiebig. Bald würde er sich für drei Stunden aufs Ohr legen. Diesen Rhythmus hatte er sich angewöhnt, weil er es ihm erlaubte, trotz seiner ungewöhnlichen Arbeitszeiten weitgehend am sozialen Leben teilzunehmen. Abends ging er wie seine Kameraden aus. Er trieb Sport, traf sich mit Freunden, blieb so lange auf wie diese, obwohl sie einige Stunden länger schlafen konnten als er. Die verpasste Nachtruhe holte er nachmittags nach, dann schlief er jeweils tief und fest.
Vorher wollte er allerdings zum Kaffee ins «Weisse Kreuz». Am Montag assen dort immer die gleichen paar Kollegen, er gesellte sich jeweils nach dem Essen dazu. Dass er nicht auch mit ihnen ass, lag weniger an Annettas zugegebenermassen beachtlichen Kochkünsten. Vielmehr war es so, dass sein Verzicht auf eine der wöchentlichen Mahlzeiten einen herben Verlust auf ihrer Aktivseite bedeutet hätte. Das konnte er ihr nicht antun, fand Beni.
Im «Weissen Kreuz» traf er am gewohnten Tisch die gewohnten Kameraden an, und die Serviererin brachte ihm ungefragt den gewohnten Espresso. Einer fehlte, weil er auf der Jagd war. Einer grübelte wie immer mit einem Zahnstocher die Reste aus dem Gebiss, während er die Zeitung las. Zwei begrüssten Beni herzlich.
«Was gibt’s Neues?», fragte er in die Runde und hoffte, nicht mit endlosen Berichten über Jagderfolge eingedeckt zu werden.
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