«Die Frage ist, ob sie schlau genug sind, die Person zu fragen, die am ehesten Bescheid weiss.» Sie musterte ihn prüfend.
«Und wer wäre das, deiner Meinung nach?» Beni hatte bei aller Neugier allmählich genug von dem Thema. Sein Magen knurrte, und er überlegte, ob in seinem Teil des Kühlschranks wohl noch etwas Vernünftiges zu finden war. Ein grosses Stück Fleisch zum Beispiel. Das Knurren wurde lauter.
«Du.»
«Was, ich?», fragte er abwesend. Offenbar hatte er etwas verpasst. Besser wäre er ein bisschen aufmerksamer, dann konnte er der Nana vielleicht wenigstens eines ihrer Schnitzel abschwatzen, die sie immer vorrätig hatte. Er fürchtete, dass abgesehen von ein paar Eiern gähnende Leere herrschte in seinem Hoheitsgebiet.
«Du bist die Person, die am ehesten Bescheid weiss, wer die Tote sein könnte», erklärte sie ungeduldig.
Beni schaute verdattert auf. «Ich? Wieso denn?»
«Überleg doch mal», wies sie ihn an. «Welcher Briefkasten quillt über, weil er seit ein paar Tagen nicht geleert worden ist? Welche Frau, von der du die täglichen Gewohnheiten kennst, hat diese in letzter Zeit unterlassen? Was ist dir auf deiner Tour Ungewöhnliches aufgefallen?»
«Ich habe keine Ahnung, sonst hätte ich das längst gesagt», antwortete Beni abwehrend.
«Du hast nicht genug darüber nachgedacht», stellte Annetta fest. «Das holen wir jetzt nach.»
«Jetzt?»
«Jawohl.»
«Jetzt habe ich in erster Linie Hunger», widersprach Beni.
«Bei deinen Vorräten herrscht gähnende Leere, ausser Spiegeleiern oder Teigwaren mit Tomatensauce kannst du dir nichts kochen.»
Warum erstaunt es mich nicht, dass sie das besser weiss als ich?, fragte sich Beni.
«Ich trete dir ein Schweinsfiletspiesschen ab und teile mit dir die Spätzli, die ich noch zum Aufwärmen habe.» Die Geräusche aus Benis Körpermitte waren auch für Annetta nicht mehr zu überhören. «Du kochst, ich frage, du antwortest, ich wasche ab.»
Beni kapitulierte. In Windeseile stellte er zwei Bratpfannen auf den Herd und zwei Teller auf den Tisch, würzte, brutzelte und wendete, während ihn Annetta ihrem Verhör unterzog. Systematisch ging sie mit ihm seine Tour durch. Als er die beiden Pfannen auf den Tisch stellte und sich reichlich schöpfte, war sie längst noch nicht fertig. Mit vollem Mund gab er ihr weiter Auskunft.
«Beim Herrschaftshaus mit dem elenden Köter ist also alles wie immer, sagst du», setzte Annetta die Unterhaltung fort. «Beim katholischen Friedhof?»
«Dort gibt es keinen Briefkasten.»
Annetta verdrehte die Augen. «Auch ohne Briefkasten kann etwas ungewöhnlich sein.»
«Dort ist nichts ungewöhnlich», stellte Beni klar. «Alles wie immer.»
«Beim Haus Rosales?»
«Auch dort …» Beni stutzte.
«Was ist los beim Haus Rosales?», drängte die Grossmutter.
«Gestern und heute waren dort verschiedene Autos zugegen», berichtete Beni. «Ein Lieferwagen aus Zürich, von einer Kunstgalerie, glaube ich. Ein schwarzer Tesla mit Bündner Nummer und einem diskreten Logo auf der Tür.»
Annetta musterte ihn aufmerksam. «Haben sie ein wertvolles Kunstwerk gekauft?»
«Nein. Zwei riesige Pakete wurden in den Lieferwagen eingeladen. Ich musste kurz warten, bevor ich wieder abfahren konnte. So bekam ich mit, dass die Galerie zwei Bilder eines französischen Künstlers gekauft hat.»
«Handeln sie neuerdings mit Kunst?», fragte sich Annetta.
Beni zuckte die Achseln. «Muss nicht sein. Vielleicht richten sie sich nur neu ein.»
«Ein schwarzer Tesla mit diskretem Logo», überlegte Annetta. «Vielleicht eine Anwaltskanzlei. Oder eine Vermögensberatung, ein Treuhänder. Waren der Bildhauer und seine Frau dort?»
«Nein.» Beni runzelte die Stirn. «Ich habe nur die Haushälterin gesehen. Den Mann treffe ich sowieso selten an, aber die Hausherrin ist häufig bei ihren Pferden. Seit ein paar Tagen habe ich sie aber nicht gesehen.»
«Sie verkaufen wertvolle Bilder, die abgeholt werden, wenn sie nicht da sind?», zweifelte Annetta.
«Daran ist nichts Besonderes», meinte Beni. «Sie werden sich zum Verkauf entschlossen haben, den sie nun durch eine Fachperson abwickeln lassen, das ist alles.»
«Kann sein», gab ihm die Nana widerstrebend recht. «Vielleicht sind sie zusammen verreist, während das Haus neu eingerichtet wird.»
«Nicht zusammen, glaube ich», widersprach Beni. «Sie habe ich am Mittwoch zum letzten Mal gesehen. Sein Auto war am Donnerstag und am Freitag noch hier.»
«Das ist eigenartig», stellte Annetta fest.
«Das muss gar nichts heissen», entgegnete er. «Sie kann vorausgegangen sein, er folgte ihr ein paar Tage später. Dafür kann es hundert Gründe geben.»
«Sicher», stimmte Annetta zu. «Aber wenn gleichzeitig eine Frau im Rhein ertrinkt und Kunstwerke abtransportiert werden, könnte es eben doch etwas heissen.»
Zwei Kaffees und eine halbe Schokolade später hatte sie Beni so weit, dass er bei der Polizei anrief.
«Warum hast du nicht gesagt, dass du sie kennst?», fragte der Stallknecht und nahm einen tiefen Zug.
«Ich spreche nicht mit der Polizei.» Blanka verschränkte die Arme.
«Ihre Fragen waren etwas eigenartig», überlegte er.
«Nein», widersprach sie. «Sie werden überall herumfragen, bis sie herausfinden, wer sie war. Das ist alles.»
«Schon, ja. Aber sie fragten auch nach dem Chef und der Chefin. Sie wussten, dass die beiden ausgezogen sind und dass Sachen aus dem Haus verkauft werden.» Er musterte sie eindringlich. «Woher wussten sie davon? Jemand muss es ihnen gesagt haben.»
«Schon möglich. In diesem Dorf wird viel geredet», meinte sie verächtlich.
«Eben. Deshalb frage ich mich, ob es eine gute Idee war, nicht zu sagen, dass du sie kennst.»
«Schweigen ist immer eine gute Idee.»
«Blanka!» Er wandte sich ihr zu. «Früher oder später werden sie herausfinden, wer die Frau ist. Dann wird ihnen klar sein, dass du gelogen hast.»
«Ja, und?», fragte Blanka trotzig.
«Meine Güte, dann steckst du in der Scheisse!»
«Warum?» Blanka wedelte den Rauch vor ihrem Gesicht weg. «Ich habe nichts mit ihrem Tod zu tun.»
«Das werden sie aber vermuten, wenn das herauskommt.»
«Ja, und?», wiederholte sie. «Sollen sie vermuten. Es wird ihnen nichts bringen.»
Der Stallknecht rang die Hände. «Sobald sie erkennen, dass du gelogen hast, bist du geliefert, begreif das doch!»
«Ich wüsste nicht, weshalb.» Sie schüttelte den Kopf. «Die Frau ist im Rhein ertrunken. Ich habe nicht gesagt, dass ich sie gekannt habe. Das ist alles.»
Der Knecht bemühte sich um einen geduldigen Tonfall. «Sie wurde tot im Flussbett gefunden. Sie müssen untersuchen, was passiert ist. Sie werden annehmen, dass sie unglücklich ausgerutscht und ertrunken ist. Aber wenn sie herausfinden, dass du sie gekannt und gelogen hast, werden sie vermuten, dass du viel mehr weisst. Vielleicht sogar, dass du sie in den Fluss gestossen hast.»
«Was spielt das für eine Rolle?», fragte Blanka. «Ich kann sie nicht gestossen haben, ich war hier.»
«Sie werden versuchen, dir das anzuhängen. Du bist verdächtig, begreif das doch!»
Blanka seufzte. «Ich hätte sagen können, dass ich sie erkenne. Dann hätten die Polizisten weitergefragt, weiter und immer weiter.» Sie faltete die Hände im Schoss. «Sie würden hier keinen Stein auf dem anderen lassen. Ich habe aber gesagt, dass ich sie nicht kenne. Die Polizei wird anderswo suchen und früher oder später herausfinden, wer sie ist. Mit etwas Glück werden sie davon ausgehen, dass sie niemanden im Dorf gekannt und nur einen Ausflug gemacht hat.»
«Das wird nicht der Fall sein», gab der Stallknecht zu bedenken. «Sobald sie wissen, wer sie ist, werden sie herausfinden, dass sie die Chefin gekannt hat.»
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