Rita Juon
Tod am Piz Beverin
Rita Juon
Tod am Piz Beverin
Kriminalroman
orte Verlag
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Satz: orte Verlag, Schwellbrunn
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ISBN: 978-3-85830-236-6
ISBN eBook: 978-3-85830-238-0
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Prolog
Das Wasserflugzeug hatte ihn zurück nach Dawson City gebracht, wo ihn der Kulturschock lähmte. Vierzehn Tage hatte er in der nordkanadischen Wildnis verbracht, allein, und doch in bunter Gesellschaft. Fauna und Flora, Landschaft und Wetter hatten ihm unbeschreibliche Momente beschert, die er mit seiner Kamera eingefangen hatte. Er brachte einige Tausend Bilder mit, die er in den kommenden Wochen sortieren und klassifizieren, von denen er viele verwerfen und manche für sich behalten würde. Er hatte genug Material, um seine Auftraggeber zufriedenzustellen: die Journalistin, die über die heutigen Goldgräber am Yukon zu berichten hatte; den Veranstalter, der Reisen mit dem Wasserflugzeug in die sogenannte Wildnis verkaufte. Für ihn aber war Wildnis erst da, wo dessen Kunden der Mut verliess. Da, wo ihn das Wasserflugzeug abgesetzt und ihn seinem Schicksal überlassen hatte.
Zu Fuss ging er zehn Minuten durch die Stadt bis zu seiner Pension. Leute, Autos, Lärm und Lichter nahm er wahr, als wäre er umschlossen von einem Luftballon und gehöre nicht dazu. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er für die Menschen unsichtbar gewesen wäre. Erleichtert verschwand er in seiner ruhigen Unterkunft, wo er zwar Dusche, Frottiertücher und das weiche Bett zu schätzen wusste, aber noch immer auf Radio, Telefon und Internet verzichtete.
Nach drei Stunden Schlaf fühlte er sich dem Unterfangen gewachsen, aus seinem Ballon herauszutreten und in die Stadt zu gehen, insbesondere deshalb, weil sein Magen laut knurrte und vor seinem geistigen Auge Früchte, Gemüse und Kartoffeln vorbeizogen. Er ass für zwei, und erst, als er den letzten Rest Sauce mit einer schlabbrigen Brotscheibe aufgetrocknet hatte, schaltete er endlich sein Handy ein.
Hunderte von Nachrichten, die allermeisten bedeutungslos. Er wechselte in den Posteingang, las flüchtig die Betreffzeilen der Mails, blätterte rasch weiter.
Als er mehrere Schreiben vom Auswärtigen Amt entdeckte, hielt er inne. Was man wohl von ihm wollte? Mit jedem Mail wurde er dringender geben, sich mit dem Absender in Verbindung zu setzen. Er schaute auf die Uhr, rechnete. Noch ein Bier, dann würde das Büro in Deutschland geöffnet sein.
Kurz nach elf trat er aus dem Lokal hinaus in die Dunkelheit, um zu telefonieren. Sofort wurde er weiterverbunden zu einem Mann, der ihm in endloser Folge Fragen zu seiner Identität stellte.
«Aber was ist denn eigentlich los?», wiederholte er ungeduldig.
Eine junge Frau, die das Restaurant verliess, lächelte ihn freundlich an, aber er beachtete sie nicht.
«Dieter?», fragte er verwirrt. «Ja, Dieter Falk ist mein Bruder. Ja, wir wohnen zusammen in Frankfurt.» Wieder lauschte er der Stimme.
«Tot?», rief er entsetzt. Die junge Frau wandte sich erschrocken um. Leichenblass liess er sich an der Hauswand niedersinken. Die Frau beugte sich besorgt über ihn, während er der Stimme aus Deutschland zuhörte.
«Mein Bruder Dieter Falk ist in den Schweizer Alpen ums Leben gekommen», wiederholte er dumpf die Worte, die er soeben gehört hatte. Er lauschte dem Klang seiner Stimme nach, als würde die Information glaubhafter, wenn er sie selber aussprach.
Erster Teil
Wieder dieser Traum. Während einiger Nächte hat er mich in Ruhe gelassen, doch heute früh war er wieder da. Immer der gleiche. Ich sitze dort, an einem schönen See, in der aufgehenden Sonne. Das Motiv würde für eine Postkarte taugen, wären da nicht die schweren, dunklen Wolken direkt über mir, welche die Sonne so unerreichbar fern erscheinen lassen. Ich sitze vor einer Höhle, einem rabenschwarzen Loch. Ich weiss, dass ich mich nicht umdrehen darf, um keinen Preis, ich muss nach vorne schauen. Hinter mir die undurchdringliche Dunkelheit, vor mir, aber weit, weit entfernt, das fahle Licht der Morgensonne.
Ich kann keine Träume deuten, will mich gar nicht darin versuchen. Ich warte bloss sehnlich darauf, dass sich die Wolken verziehen, dass mich die Sonnenstrahlen erreichen, dass die Höhle hinter mir sich verwandelt in ein lichtdurchflutetes Zimmer. Dass mich die Wärme der Sonne erreicht.
Manchmal scheint mir, ich funktioniere einfach. Ich spreche, höre zu, lächle, lache sogar. Ich arbeite, unternehme das eine oder andere in der Freizeit, bin mit anderen Leuten zusammen. Aber immer bin ich ausgefüllt von dieser riesigen Leere, von der unermesslichen Kälte, die aus meinem Innern kommt und mich bis in die Zehenspitzen zu durchdringen scheint.
Werde ich je wieder Wärme fühlen?
1950
Von den nächsten Minuten hing ihre Zukunft ab. Sie konnte es nicht mehr länger hinausschieben. Ganz bewusst atmete sie seinen leicht schweissigen Geruch ein, kostete das Spüren seiner regelmässigen Herzschläge unter ihrer Hand aus, genoss das Kitzeln seiner Brusthaare an ihrer Nase. Sollte es das letzte Mal in ihrem Leben sein, dass sie seine nackte Haut spürte, wollte sie die Erinnerung für alle Zeiten bewahren.
«Ich bin schwanger.»
Jetzt war es draussen. Sie spürte, wie sein Herz einen Satz machte. Bange wartete sie auf seine Reaktion. Würde er aufstehen und heimgehen zu Frau und Kindern?
Langsam liess er den Atem entweichen, den er angehalten hatte. Dann drückte er sie an sich.
Ein erleichtertes Lächeln schlich sich in ihre Züge. Das konnte alles bedeuten: Wir schaffen das. Ich halte zu dir. Ich freue mich trotz der widrigen Umstände. Ganz sicher aber hiess es nicht: Das war’s dann. Schau selber, wie du damit zurechtkommst. Das ist das Ende.
Sie erlaubte sich den Traum, er würde sich von seiner Frau trennen, seine Kinder zurücklassen, mit ihr weggehen, ein neues Leben anfangen an ihrer Seite. Wohl wissend, dass das eine Illusion war.
Am nächsten Morgen stand sie wie gewohnt in der Gaststube, arbeitete flink im Service, scherzte mit den Gästen. Sie brauchte bloss etwas zu plappern in ihrem Tiroler Dialekt, der Schalk in ihren leuchtenden Augen sprühend, und schon hatte sie die Gäste im Sack. Im abgelegenen Dorf im Prättigau nahmen die einheimischen Restaurantbesucher, fast ausschliesslich Männer, das frische Blut aus dem Montafon mit offenen Armen auf.
Im wörtlichen Sinne hatte sie sich in die offenen Arme von Joggel sinken lassen. Seit geraumer Zeit besuchte er sie heimlich in ihrer Kammer über der Gaststube. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis im Dorf Vermutungen aus dem Kraut schossen, es wurde gemunkelt und getratscht.
So war niemand erstaunt, als sich einige Monate später ihr Bauch deutlich rundete. Der ganzen Einwohnerschaft, seiner Frau eingeschlossen, war klar, dass da Joggels Kind heranwuchs. Niemand verlor ein lautes Wort darüber.
Als der kleine Johanngeorg schliesslich im Zivilstandsregister eingetragen wurde, hiess es anstelle eines Männernamens nur: Vater unbekannt.
2014
Freitag
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