«Dieses Hilfsangebot scheint bei der Radfahrerin nicht gut angekommen zu sein!» Vor Toni stand ein nicht mehr ganz junges Pärchen, dessen Herkunft Toni bei den ersten Worten der lächelnden Frau unschwer erraten konnte.
«Tatsächlich, ein Rat zum Rad war nicht willkommen.» Toni lachte die Österreicherin an und bedeutete den beiden, neben ihm auf der Bank Platz zu nehmen.
«Der Rat mit dem Gerat fürs Rad war wohl etwas unbeholfen …»
«Auch nicht schlimmer als dieses Wortspiel. Ä-Punkte weglassen gilt nicht! Gerat, also bitte. Mögt ihr einen Sirup?»
«Ja, gerne!»
Toni holte zwei Gläser und reichte sie den beiden Wanderern, die sich als Georg und Petra Steingruber vorstellten.
«Ja, Österreicher», bestätigte Petra Tonis Vermutung.
Treffer, dachte Toni, und schaute seine Frau triumphierend an.
Gemogelt, du hast sie sprechen gehört, antwortete Annamaria mit einem Blick.
Sandra Studacher war nach ihrer rasanten Abfahrt verschiedenen Alpwegen gefolgt, so dass sie in einem weiten Bogen über den Heinzenberg bis zur Obergmeind aufgestiegen war. Die kleine Siedlung bestand hauptsächlich aus Ferienhäusern, meist ehemaligen Bauernhäusern, und Touristenlagern und lag direkt an der Mittelstation der Skilifte, die ihre Zugseile über zurzeit noch grünbraune Hänge spannten. Eines der Restaurants hatte geöffnet. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts den Schweiss von der Stirn, als sie die Treppe zur Terrasse hinaufstieg.
«Herrlich ist es hier», sagte sie aus tiefster Seele zu der Frau und den beiden Kindern, die auf der Laube sassen. Die Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, schauten sie mit grossen Augen an.
Die Frau lächelte. «Ja, das ist es, nicht wahr?», antwortete sie.
Sandra setzte sich an den Tisch neben der kleinen Gruppe und begann zu plaudern.
Die Mädchen löffelten beide einen grossen Coupe mit viel Schlagrahm und schienen sich etwas über die Redseligkeit der Fremden zu wundern, wandten sich aber bald wieder ihrem Gespräch und Gekicher zu. Die Frau hingegen freute sich über die Gelegenheit zu einem Schwatz.
«Wo wohnen Sie in Glas?», fragte sie Sandra, nachdem diese ihren Ferienort genannt hatte.
«Im Berggasthaus Beverin. Kennen Sie es?»
«Aber ja. Wir wohnen auch dort.»
«Sie machen dort Ferien? Ich hätte gedacht, Sie seien einheimisch hier. Die Kinder sprechen doch Bündner Dialekt, oder nicht?»
«Wir wohnen in Chur. Die Kinder haben am Montag schulfrei, so habe ich sie eingeladen, drei Tage mit mir in Glas zu verbringen.»
«Ist eines der Mädels ihre Tochter?»
«Nein, ich habe keine Kinder. Jana ist die Tochter einer guten Freundin, Julia ist ihre Kameradin. Sie gehen zusammen zur Schule.» Die Mädchen nahmen keine Notiz davon, dass von ihnen die Rede war, sondern unterhielten sich angeregt über irgendwelche Grössen der Musikszene.
Bald duzten sich die beiden Frauen. Angela Oberhofer, erfuhr Sandra, arbeitete als Pflegerin im Kantonsspital in Chur, war Mitte vierzig und alleinstehend. Ansonsten sprach sie nicht gerne von sich, lieber von den Kindern, oder hörte Sandra zu. Bereitwillig erklärte sie ihr das Panorama und zeigte ihr einige bekannte Bergspitzen, die von der Obergmeind aus zu sehen waren.
«Die Fernsicht ist grandios», staunte Sandra.
«Ja, bei diesem Wetter ist die Sicht atemberaubend. Das liegt am Föhn. Wenn Südwind bläst, ist die Luft besonders klar und die Berge erscheinen einem viel näher als sonst.»
«Wenn das so ist, hoffe ich, dass der Föhn die ganze Woche aktiv ist, denn so lange bleibe ich hier.»
«Das wird kaum der Fall sein», dämpfte Angela ihre Hoffnungen. «Er bricht bald zusammen, danach wird es regnen.»
Genau dieselbe Auskunft hatte Toni Hunger seinen neuen österreichischen Bekannten gegeben, und genau wie Sandra Studacher waren diese in keiner Weise geneigt, sich mit dem Gedanken an schlechtes Wetter zu beschäftigen.
Petra Steingruber streckte die Beine, stöhnte wohlig und liess den Blick über die Hochebene schweifen. «Das Bächlein hier oben ist beneidenswert. Jung, fröhlich sprudelnd, unbelastet von Schmutz oder schlechten Erfahrungen. Es kommt mir vor wie ein junger Hund, voller Tatendrang und gespannt, was die Zukunft alles zu bieten hat. Der Fluss bei uns zu Hause hingegen ist alt, träge, eingeengt durch Dämme, mit wenig Hoffnung, dass die Zukunft noch Gutes bringen kann.»
Ihr Mann Georg widersprach. «Aus dir spricht eine, die das Landleben liebt. Der Fluss bei uns ist ein Städter! Er braucht kein sauberes Wasser, viel lieber ist ihm seines, das angereichert ist mit Erfahrungen, Erlebnissen, Eindrücken, die er alle auf Hunderten von Kilometern gesammelt hat. Er möchte nie wieder klein, einsam und unwissend hoch oben in den Bergen sein, gewürzt höchstens mit Kuhfladen und Hühnerpisse.»
Toni lachte. «Es sind aber genau die ersten Erfahrungen mit Kuhfladen und Hühnerpisse, die das Bächlein prägen. Der Fluss bei euch daheim hat auch so angefangen und führt die Erinnerung daran immer noch mit sich, angereichert mit allem anderen, was danach gefolgt ist. Wer weiss schon, ob er sich mit Wehmut oder mit Abscheu an die ersten Fäkalien erinnert.»
«Jedenfalls muss das Bächlein sich keine Gedanken über den Sinn seines Daseins machen», sinnierte Petra. «Von der Quelle an ist das Ziel bekannt, der Endpunkt der Reise ist das Meer.»
«Na, das ist ja nun auch keine bestimmtere Aussage, als dass der Endpunkt des Lebens der Tod ist», widersprach ihr Mann. «Meine liebe Petra, diese Aussage ist zu wenig differenziert. Entscheidend ist doch, womit man die Reise ausfüllt, die zwischen Quelle und Meer liegt.»
«Stimmt», lenkte Petra ein. «Genau betrachtet ist das Leben eines Flusslaufs unglaublich hart, denn von den Wassertropfen, die hier oben starten, erreicht wohl kein einziger das Meer. Sie werden lange vorher auf Felder verteilt, in Häuser geleitet, in Fabriken verarbeitet, werden verkocht, getrunken …»
«… finden sich wieder in Kuhfladen und Hühnerpisse …», warf Toni schmunzelnd ein.
«Genau! Die machen tausend Umwege, bevor sie ins Meer gelangen, wenn sie es überhaupt schaffen, die Wahrscheinlichkeit ist verschwindend klein. Die Wassertropfen hier oben müssten völlig hoffnungslos und deprimiert sein. Warum scheint dieses Bächlein nur so fröhlich?»
Das Schweigen, mit dem sich alle dieser Frage widmeten, wurde schliesslich von Annamaria gebrochen.
«Weil das Ziel der Himmel ist, nicht das Meer», sagte sie.
Georg und Petra musterten sie verblüfft.
«Das Ziel des Flusses mag das Meer sein», fuhr Annamaria fort. «Aber das Ziel jedes einzelnen Wassertropfens ist es, zu verdunsten und zum Himmel aufzusteigen.»
«Klug», bemerkte Georg.
«Überzeugend!», ergänzte Petra. «Der einzelne Tropfen braucht das Ziel des Flusses nicht zu erreichen, seine Bestimmung ist es, ein Stück des Weges mitzugehen und eine Zeitlang ein Teil des Ganzen zu sein.» Anerkennend betrachtete sie Annamaria, die ihr mit einem Lächeln in den Augen zunickte.
Die nachdenkliche Stille wurde unterbrochen durch einen spindeldürren Mann im Übergewand, der sich mit einem Besen in der Hand dem Haus näherte.
«Ciao, Pulit!», begrüsste ihn Toni. «Magst du auch einen Sirup?»
Der Mann strahlte. «Ja, Toni, gerne, Toni!» Er nickte eifrig. «Aber zuerst putze ich den Platz vor eurem Stall.»
«Danke, Pulit», sagte Annamaria, «und die Steinplatten vor der Haustür, die hätten es auch nötig!»
«Ja, Annamaria, gerne, Annamaria», antwortete der Dünne und ging eifrig hinüber zum Stall.
Erst am späteren Nachmittag entschloss sich Toni widerwillig, seinen Platz auf der Bank zu räumen. Es wurde kühl, die meisten Touristen machten sich auf den Heimweg oder hatten den Glaspass bereits verlassen.
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