«Ja, sie bleibt noch einige Wochen in Moldawien. Neben der Arbeit im Kinderheim hat sie ein Projekt angerissen, um Ausbildungsmöglichkeiten für junge Frauen zu schaffen. Das läuft harzig an. Sie wird wohl dort bleiben, bis der Winter anbricht.»
«Armer Walter», sagte Meta mit echtem Mitgefühl in der Stimme. «Was tust du denn das ganze Wochenende, ausser Süssigkeiten essen und Heimatfilme schauen?»
«Den Hometrainer strapazieren, um die Kalorien zu verbrennen, die ich in mich hineinfuttere!»
Toni konnte es nicht lassen. Er hatte seinem Sohn im Stall geholfen, mit Annamaria zu Abend gegessen, den Wetterbericht im Fernseher geschaut. Danach war er gleich sitzen geblieben, weil eine neue Folge einer Krimiserie kam. Er liebte diese Serie. Die Kommissarin war eine bodenständige, praktische junge Frau, keine aufgemöbelte Zicke, die in Stöckelschuhen auf Verbrecherjagd ging. Und der Kommissar hatte einen Bauch, wie es sich in seinem Alter gehörte. Nachdem die Täter gefasst waren, konnte Toni jedoch nicht mehr sitzen bleiben. Die Neugier trieb ihn ins Gasthaus. Er wollte die neuen Gäste aus der Nähe sehen.
Nach der abendlichen Kühle draussen war es in der Gaststube angenehm warm. Der Raum hatte grosse Ähnlichkeit mit dem Wohnzimmer in seinem Haus. Die Wände waren getäfelt, das unbehandelte Holz stark nachgedunkelt. Der caramelfarbige Kachelofen nahm einen beträchtlichen Platz ein im ohnehin nicht grossen Raum. Das schummrige Licht passte zur warmen Atmosphäre und stammte von hübschen Hängelampen, wie sie früher auch Tonis Mutter besessen hatte. Karierte Vorhänge, Ansichtskarten von Gästen und allerlei Schnickschnack auf Simsen und Regalen wirkten ebenfalls freundlich und boten den Gästen eine familiäre Atmosphäre, die überdies zahlreiche Klischees vom Leben in den Bergen bediente.
Fast alle Tische waren besetzt. Toni erblickte Müllers hinten an der Wand, die ihm zuwinkten und ihm bedeuteten, sich zu ihnen zu setzen.
«Dasselbe, bitte», beantwortete Toni Franks Frage nach seiner Bestellung und deutete auf die Getränke von Gusti und Greti Müller, die beide einen Espresso und ein Gläschen Grappa vor sich hatten.
«Wir brauchten ein Verdauungsschnäpschen», erklärte Greti lächelnd. «Frank hat so gut gekocht und so reichlich geschöpft, dass wir kaum mehr aufstehen mögen!»
«Mmh, ja», bestätigte Gusti. «Die Schnitzel waren ganz zart, die Sauce ein Gedicht, sag ich dir, und solchen Risotto bekommt man sonst nirgends! Er spart nicht mit dem Käse, der Frank, und mit dem Wein auch nicht, der versteht was vom Kochen.»
Toni lehnte sich zurück und beobachtete die Gäste. Die Frau mit den beiden Mädchen war am Vortag bereits hier gewesen, Wochenendausflügler. Eine nette Idee, mit den Kindern auf den Glaspass zu kommen, in einem der einfachen Zimmer zu übernachten, ein wenig zu wandern und draussen zu spielen. Sympathisch, wenn auch etwas langweilig.
Die hübschen Beine verbargen sich leider unter dem Tisch und lenkten so seinen Blick nicht vom Gesicht der jungen Frau ab, die sich über ihr Telefon beugte und mit dem Schreiben einer Nachricht beschäftigt war. Als sie kurz aufschaute, um einen Schluck ihres Mineralwassers zu trinken, kreuzten sich ihre Blicke. Hübsche Augen, freundliche Ausstrahlung, könnte sich als ganz nett herausstellen. Ihr gegenüber sass ein junger Italiener, der sich ebenfalls mit seinem Telefon beschäftigte. Für Toni würde es immer ein Rätsel bleiben, wieso die jungen Leute ihren elektronischen Kontakten eine höhere Priorität einräumten als den realen. Zwei junge Leute an einem Tisch sollten sich miteinander unterhalten, nicht jeder für sich mit seinem Telefon! Jetzt näherte sich energischen Schrittes ein zweiter Südländer, der offenbar auf der Toilette gewesen war.
«Ah, Lorenzo, erst halb zehn! Wird es denn nie mehr Abend heute? Gehen wir?»
«Nein, das hat keinen Wert, Gianni arbeitet noch. Vor elf Uhr müssen wir nicht unten sein, um diese Zeit ist auch noch nichts los in Thusis. Komm, Tiziano, trinken wir noch was.» Er winkte Frank.
Tiziano trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch, war aber einverstanden. Er musterte Sandra Studacher, der schon wieder ein Ton den Erhalt einer neuen Mitteilung ankündigte.
«Wem schreibst du denn die ganze Zeit? Ist das so wichtig?»
Seine Stimme war laut genug, dass Toni jedes Wort verstehen konnte und unter seinem Bart verstohlen schmunzelte. Ein Seelenverwandter.
«Moment … warte …», murmelte Sandra.
«Hallo, Sandra, du hast Gesellschaft!» Tiziano wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht.
«Lass sie doch», beschwichtigte Lorenzo, «es scheint wichtig zu sein.»
«Quatsch, wichtig! Los, Sandra, erzähl mal, was schreibst du da?»
«Senden!», murmelte sie, berührte das Gerät am richtigen Ort und blickte auf. «Was ich schreibe?», wiederholte sie. «Eine Kollegin hatte heute eine wichtige Prüfung, da wollte ich nachfragen, wie es ihr gegangen ist. Eine andere hat sich erkundigt, ob ich gut angekommen sei. Meine Mutter war mit dem Hund beim Tierarzt und teilte mir mit, dass ihn dieser behandeln konnte. Ein Bekannter …»
«Eben, ich wusste es doch! Alles unwichtig, hast du gehört, Lorenzo?»
«Na, hör mal! Meine Freunde und die Familie sind wichtig für mich!», empörte sich Sandra.
«Aber in den Ferien sind doch die neuen Bekanntschaften wichtig, sonst müsstest du ja gar nicht wegfahren, capisci? Du könntest genauso gut zu Hause auf dem Sofa sitzen, allein, die ganze Woche, und Nachrichten schreiben.»
Sandra holte tief Luft, um zu einer Antwort anzusetzen. In diesem Moment ertönte ein penetranter Glockenklang, der Tiziano aufspringen liess. Er riss sein Smartphone aus der Hosentasche, meldete sich mit «ciao, ciao, dimmi …» und verliess eilig das Restaurant.
Lorenzo hob resigniert die Schultern und lachte Sandra an. Sie lächelte zaghaft zurück.
«Grosse Worte und nichts dahinter, was?», sagte sie.
«Ja, er ist ein unverbesserlicher Schwätzer, aber mit ihm läuft immer etwas, da ist es nie langweilig!»
Auch Toni Hunger, der die Szene beobachtet hatte, lachte. Einen Tisch weiter vorne sassen Petra und Georg Steingruber, die Gäste aus Österreich, die nichts mitbekommen hatten. Sie beugten sich tief über eine Wanderkarte, ihre Köpfe berührten sich fast, und unterhielten sich leise. Am Tisch, der der Tür am nächsten stand, sassen die drei jungen Deutschen. Sie hatten noch kaum miteinander gesprochen, seit Toni hier war. Einer kratzte sorgfältig die letzten Reste seines Desserts aus dem Teller, einer spielte mit dem Zuckerpäckchen, das er zu seinem Kaffee erhalten hatte, und der dritte stocherte mit einem Hölzchen in seinen Zähnen.
Frank versicherte sich mit einem Blick, dass alle seine Gäste bedient waren, bevor er sich an einen der Tische setzte. Er hatte eine Karte und einige Prospekte dabei und gab bereitwillig Auskunft über die Sport- und Ausflugsmöglichkeiten, die sich den Gästen boten.
«Der Piz Beverin ist nicht zu unterschätzen. Der Aufstieg von hier aus ist keine einfache Wanderung, sondern eine Bergtour.»
«Muss man denselben Weg wieder runter, oder gibt es noch andere Routen?», fragte einer der drei Deutschen.
Frank schilderte ausführlich die anderen, weniger problematischen Möglichkeiten und ging dann über zu den leichteren Wanderungen: längere und kürzere, steilere und flachere, einsamere und solche mit Gasthäusern am Weg.
«Der Weg vom Glaspass hinunter ins Safiental hätte mich heute ungemein gereizt, als ich mit dem Velo unterwegs war», sagte Sandra. «Wie komme ich von dort wieder zurück hierher?»
«‹Velo› sagt sie», bemerkte einer der Deutschen halblaut. Und in verletzend abschätzigem Tonfall fügte er hinzu: «Wie soll jemand Fahrrad fahren können, wenn er’s nicht mal aussprechen kann?»
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