Aus welchem Grund auch immer, während des letzten Teils ihres Monologs hat sie mich direkt angesehen. So als wüsste ich die Antwort auf ihre Frage oder sie die Antwort auf das Chaos in meinem Inneren. Ich schlucke und senke die Augen. „Ich weiß es nicht“, sage ich schließlich hilflos. „Aber wir werden herausfinden, wer ihr das angetan hat.“ Ich hoffe nur, dass wir dieses Versprechen auch einhalten können.
Sie nickt nur stumm.
Sam lenkt die Aufmerksamkeit mit einem dezenten Räuspern auf sich. „Wir müssen das leider fragen, können Sie uns sagen, wo Sie am letzten Dienstag waren?“ Offiziell kennen wir den genauen Todestag noch nicht, Sam verzieht das Gesicht, anscheinend ist ihr auch aufgefallen, dass sie uns ein Stück weit verplappert hat. „Seitdem ist sie nicht zur Arbeit erschienen“, setzt sie nach.
„Bei meinen Eltern in San Diego, sie haben ihren Hochzeitstag groß gefeiert. Ich bin am Samstag dorthin geflogen und bin bis letzten Freitag dort geblieben, um Zeit mit meiner Familie zu verbringen.“ Praktischerweise deckt ihr Alibi einen geraumen Zeitraum ab, wir müssen also nicht erklären, woher wir das Datum kennen. „Soll das heißen … ich war nicht einmal in der Stadt, als …?“
Sam drückt ihre Hand. „Es hätte nichts geändert, da bin ich mir ganz sicher.“
„Können Sie uns sagen, wann und wo sich diese Selbsthilfegruppe trifft?“ Anscheinend führt das zu der einzigen sinnvollen Spur, die wir haben.
Nancy nickt erneut, bevor sie in einem Papierstapel unter dem Sofatisch kramt. Sie reicht mir einen Flyer. „Da steht alles drin.“
Wir bleiben bei ihr, bis die besagte Freundin erscheint. Carol steht auf Selmas Liste, sie sagt aus, dass sie Lilly seit Wochen nicht gesehen hat und hat ein Alibi, das den Rest der Clique umfasst. Wir werden es natürlich trotzdem überprüfen müssen, ebenso wie jenes von Nancy Reddigan.
„Dyke Tuesday im Mantles. Wir gehen nur noch mit der ganzen Gruppe dorthin, die Gegend ist gefährlich in der letzten Zeit.“ Sie wirft Nancy einen wissenden Blick zu und streicht ihr beruhigend über die Arme. Diese behält anscheinend nur noch mühsam die Fassung, deshalb ziehen wir uns zurück, um den beiden ihre Privatsphäre zu lassen.
***
„Puh!“ Sam atmet lautstark aus, sobald wir im Auto angekommen sind. „Das war nicht gerade angenehm.“
„Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass es leichter wird.“ Ich bin zumindest froh, den Aufruhr in meinen Eingeweiden wieder unter Kontrolle zu haben. „Aber das wird es nicht!“
„Armleuchter! Dafür sollte es einen Dollar ins Phrasenschwein geben …“ Ihr Gesichtsausdruck ist todernst, aber ich kann ein Grinsen in ihrer Stimme hören.
Ich zucke mit den Schultern, Phrase hin oder her, es ist die Wahrheit. „Die Selbsthilfegruppe trifft sich jeden Dienstag. Das heißt, sie ist möglicherweise dort zuletzt gesehen worden. Vielleicht hat sie dort sogar ihren Mörder getroffen.“
„Das heißt also, wir müssen morgen dort hin.“
Anscheinend, ich FREUE mich schon riesig darauf, mit einem ganzen Haufen Leute zu reden, die alle die Geister aus meiner eigenen beschissenen Vergangenheit ausgraben werden. Wir sollten den Fall möglichst schnell an die Feds abgeben. Zum Teufel mit den blöden Sprüchen! Aber Mickey Simmons kneift nicht, er bringt das Monster zur Strecke, beziehungsweise hinter Gitter. Und ich habe Nancy gesagt, wir finden dieses Monster.
***
Habe ich mich an diesem Tag auf den Feierabend gefreut? Nein, aber ich bin erleichtert, dass ich vor dem Albtraum, der mich morgen erwartet, noch eine Galgenfrist bekommen habe. Bis ich vor Kellys Wohnung stehe. Anscheinend hat mir meine Verlobte zumindest eine meiner vielen Fragen beantwortet. Sie ist mit ihrer Geduld am Ende angelangt.
Meine bescheidene persönliche Habe steht in Kisten, Taschen und Koffern vor der Tür. Auf den ersten Blick dürfte sie nichts vergessen haben. Aber ich reise schließlich auch mit leichtem Gepäck. Seit ich bei ihr wohne, ist es eher mehr geworden … Der rote Pulli, der ihrer Mutter so gut gefallen würde, ich müsse schließlich einen guten Eindruck machen … Die schwarze Lederjacke, die so modern ist, sie wolle schließlich ihren coolen Freund vorzeigen können … Ich kann ihre Stimme in meinem Kopf hören. Ich mochte die Farbe Rot noch nie und die Lederjacke war schrecklich unbequem.
Während ich den Stapel, der den Flur halb blockiert, betrachte, frage ich mich, ob ich jemals wirklich bei ihr zu Hause war, oder einfach nur aus Gewohnheit oder Bequemlichkeit geblieben bin. Obenauf steht ein Karton mit persönlichen Erinnerungsstücken, den ich niemals ausgepackt habe. Ich habe hier über ein Jahr gewohnt.
Ich sollte wütend, enttäuscht oder verletzt sein … Vielleicht sollte ich mich weigern, einfach zu gehen. Ich sollte an ihre Tür klopfen oder meinen Schlüssel benutzen, zum Teufel! Eine Erklärung sollte ich verlangen, irgendetwas tun jedenfalls. Aber ich grüble nur darüber, wo ich kurzfristig und mitten in einem Fall unterkommen soll.
Als ich schließlich seufze und mit dem oberen Ende der Pyramide beginne, meine Klamotten in meinen Kofferraum zu verfrachten, fällt ein Stück Karton hinunter. Kelly hat ihren Verlobungsring ganz unzeremoniell mit Klebestreifen darauf befestigt. Daneben steht:
Viel Spaß mit Deiner neuen „Partnerin“!
What the Fuck?!
***
Louie ist das Klischee eines Schankwirts einer Cop-Kneipe. Sein Laden liegt stilistisch irgendwo zwischen Sportsbar und Irish Pub. Da es Montagabend ist, herrscht wenig Betrieb. Somit habe ich Louies ganze Aufmerksamkeit. Er ist selber ein Ex-Cop, aufbrausend und sarkastisch und das Motiv vieler urbaner Legenden. Einer Geschichte zufolge hat er sich die Kneipe von seinen reichhaltigen Bestechungsgeldern bei der Sitte gekauft, oder hatte gar selber ein paar Mädels laufen. Der nächste Kollege glaubt zu wissen, dass er das Geld als Belohnung für die Ergreifung des Mörders eines Millionärs kassiert hat, von der Witwe. Vielleicht aber auch für den Mord. Wiederum die nächste Geschichte besagt, er habe sie beim Pokern gewonnen … Ob eine dieser Geschichten stimmt, weiß ich nicht, ebenso wahrscheinlich ist, dass er sie alle selbst verbreitet hat, um sich über den Rest der Welt zu amüsieren.
Gerade könnte mich seine Vergangenheit auch kaum weniger interessieren. Das Chaos in meinem Kopf beschäftigt mich mehr als ausreichend.
„Es reicht, Mickey, du gehst jetzt nach Hause zu deiner Frau. Du hast definitiv genug für heute!“
Ich lache prustend los, als hätte er etwas Komisches gesagt. „Die hab’sch … ni’mehr! Sowohl, als … Ausch, auch!“
„Wie auch immer, Junge, du bist blauer als die Uniform von einem Streifenpolizisten!“
Louie ist heute wirklich zum Schreien komisch. „Hi, hi, hi … Isss’ schwa’z … die Uniform!“
„Gott sei Dank, farbenblind bist du noch nicht“, trotzdem schiebt er mich von meinem Barhocker und mit Nachdruck aus seinem Laden. „Geh und schlaf deinen Rausch aus, Kleiner!“
Bevor ich mich darüber aufregen kann, dass er mich so genannt hat, ist er wieder in seiner Kneipe verschwunden. „Arschloch!“ Meine Stimme prallt von der geschlossenen Eingangstüre ab.
Auf dem Parkplatz schaue ich auf mein vollgeladenes Auto, ich habe meinen alten Ford erfolgreich in ein dreidimensionales Tetris-Spiel verwandelt … OK, ans Steuer gehöre ich nun wirklich nicht mehr. Gibt es hier irgendwo ein Hotel? Oder besser eine Bar, wo man einem verwirrten, obdachlosen Mann etwas zu trinken gibt? Nachdem ich ein paar Atemzüge der kühlen Nachtluft genommen habe, fühle ich mich nüchtern genug, um die Straße entlang zu marschieren, mehr oder weniger geradeaus.
Als ich nach ein paar Minuten Musik und Stimmengewirr höre, scheint mir das ein Zeichen zu sein. Ich gehe wie magnetisch angezogen den Geräuschen entgegen und betrete eine Bar, über deren Tür eine leuchtende Regenbogenfahne blinkt. Auf einer winzigen Bühne steht eine über zwei Meter große Lady Gaga in einem bizarren roboterartigen Metalloutfit. Sie „singt“ ihren aktuellen Hit, den Titel habe ich mir erst gar nicht gemerkt. Ist nicht meine Musik. Country und Rock sind eher mein Geschmack.
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