Der Tatbestandist auszulegen, wenn nicht vollkommen offenkundig 58ist, dass er erfüllt ist. Dabei sind die AuslegungsmethodenWortlaut, Systematik, Sinn, Historie sowie die verfassungs- oder unionsrechtskonforme Auslegung anzuwenden.
In der Rechtsfolgeist zu prüfen, ob die zu prüfende Maßnahme noch von der Rechtsgrundlage gedeckt ist oder gegen sonstiges (höherrangiges) Recht verstößt. Bei sog. gebundenen Entscheidungen („ist“) wird Adressatenwahl, Bestimmtheit sowie (rechtliche und tatsächliche) Möglichkeit geprüft. Bei Ermessensentscheidungen sind zusätzlich die Vorgaben des § 40 LVwVfG zu beachten: Ausübung des Ermessens, keine zweckfremden Erwägungen, Einhaltung der gesetzlichen Grenzen. Wichtigste gesetzliche Grenzen stellen die Grundrechteund die europäischen Grundfreiheitendar.
Materielle Fehler können nur in begrenztem Umfang nachträglich „ausgebessert“ werden, etwa durch die sog. Umdeutung gem. § 47 LVwVfG oder durch eine neue Ermessensentscheidung im Widerspruchsverfahren. 59Letzteres ist nur möglich im Rahmen der sog. Fachaufsicht. Im Gegensatz zur gerichtlichen Prüfung, prüft im Widerspruchsverfahren die nächsthöhere Behörde (§ 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 VwGO) 60, also ein Teil der Exekutive. 61Ist sie Fachaufsichtsbehörde – was gem. §§ 20 f. LVG BW beim Handeln als Verwaltungsbehörde stets der Fall ist –, kann sie auch die Zweckmäßigkeit und nicht nur die Rechtmäßigkeit überprüfen. Folglich kann sie auch eine andere Ermessensentscheidung treffen.
60Auch die Vorgaben der formellen Rechtmäßigkeitergeben sich aus dem Gesetz und sind von der Verwaltung einzuhalten. Diese sind Zuständigkeit, Verfahren und Form.
Einen Verstoß kann der Betroffene aber nicht immer geltend machen. Das deutsche (Verwaltungs)Rechtssystem ist gem. Art. 19 Abs. 4 GG auf den Individualrechtsschutz ausgelegt. 62Im Fokus stehen subjektive Rechte, wie sie sich etwa aus den Grundrechten ergeben. Verfahrensvorschriften haben nur „dienende Funktion“ und vermitteln selten ein subjektives Recht. 63Das ist Grund dafür, warum formelle Fehler im Gegensatz zu materiellen Fehlern grundsätzlich heilbar (§ 45 LVwVfG) oder unbeachtlich (§ 46 LVwVfG) sein können.
Eine Verletzung von Form- und Verfahrensvorschriften kann aber auch andere Sanktionen als die mögliche Aufhebung des Verwaltungsaktes mit sich bringen. 64Daher steht es auch im Interesse der Verwaltung, die formellen Voraussetzungen einzuhalten.
61Die Zuständigkeitfolgt aus den oben erörterten Grundzügen des Staatsaufbaus und ergibt sich deswegen fast ausschließlich aus Landesrecht, konkret aus Landesgesetzen oder Zuständigkeitsverordnungen. Die sachliche Zuständigkeitist dabei stets in den Fachgesetzen oder dazugehörigen Verordnungen geregelt. Nur die örtliche Zuständigkeit ergibt sich zumeist aus § 3 LVwVfG.
Ausgangspunkt der sachlichen Zuständigkeit ist zwingend (!) eine Norm, die sagt „sachlich zuständig ist […]“. In der Regel lautet die Norm in etwa „Sachlich zuständig ist die untere […]behörde, soweit nichts anderes bestimmt ist“. 65Manchmal wird nicht direkt die untere Verwaltungsbehörde angesprochen, sondern eine andere untere Behörde, etwa die untere Baurechtsbehörde. Dann ist eine weitere Norm zu suchen, die definiert welches die (in diesem Fall) untere Baurechtsbehörde ist. Für gewöhnlich ist dies die untere Verwaltungsbehörde. Wer untere Verwaltungsbehörde ist, definiert § 15 Abs. 1 LVG BW. Hier kommt es darauf an, ob sich der Sachverhalt in einem Stadtkreis, einer Großen Kreisstadt oder einer sonstigen Kreisangehörigen Gemeinde abspielt. In letzterem Fall ist fast immer das Landratsamt zuständig.
62Beispiele zur Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit
1. Allgemeine Gewässeraufsicht gem. § 75 Abs. 1 WG BW, § 100 WHG im Gebiet eines Stadtkreises:
Sachlich ist gem. § 82 Abs. 1 S. 1 WG BW die untere Wasserbehörde zuständig. Untere Wasserbehörden sind gem. § 80 Abs. 2 Nr. 3 WG BW die unteren Verwaltungsbehörden. Untere Verwaltungsbehörden sind in den Stadtkreisen die Gemeinden, § 15 Abs. 1 Nr. 2 LVG BW.
2. Erteilung einer Baugenehmigung gem. § 58 Abs. 1 LBO BW im Gebiet einer kreisangehörigen Gemeinde:
Sachlich ist gem. § 48 Abs. 1 LBO BW die untere Baurechtsbehörde zuständig. Untere Baurechtsbehörden sind gem. § 46 Abs. 1 Nr. 3 LBO BW die unteren Verwaltungsbehörden und die in § 46 Abs. 2 LBO BW genannten Gemeinden und Verwaltungsgemeinschaften. Ein Fall des Abs. 2 liegt nicht vor. 66Untere Verwaltungsbehörden sind gem. § 15 Abs. 1 Nr. 1 LVG BW in den Landkreisen insb. die Landratsämter. Der Sachverhalt spielt sich hier auf dem Gebiet einer kreisangehörigen Gemeinde ab, sodass das Landratsamt zuständig ist.
3. Erlass eines Platzverweises gem. § 30 Abs. 1 PolG BW durch eine kreisangehörige Gemeinde:
Sachlich zuständig für den Platzverweis sind gem. § 105 Abs. 1, 3 PolG BW sowohl die Polizeibehörden wie auch der Polizeivollzugsdienst. Hier kommt das Handeln der Gemeinde, einer Polizeibehörde i. S. d. § 105 Abs. 1 PolG BW, in Betracht. Gem. § 111 Abs. 2 PolG BW sind grundsätzliche die Ortspolizeibehörden zuständig. Das sind nach § 107 Abs. 4 S. 1 PolG BW die Gemeinden.
4. Schließung eines Gewerbes gem. § 15 Abs. 2 GewO auf dem Gebiet einer Großen Kreisstadt:
Sachlich zuständig für die Schließung des Gewerbes sind gem. § 1 GewOZuVO BW die unteren Verwaltungsbehörden. Untere Verwaltungsbehörden sind in den Landkreisen insb. die Großen Kreisstädte. Eine Ausnahme gem. § 19 LVG BW liegt für gewerberechtliche Angelegenheiten nicht vor.
63Beim Verfahrensind im Regelfall alle Vorschriften der §§ 9 ff. LVwVfG zu beachten. Wichtig sind hier insb. der Ausschluss bestimmter Personen (§§ 20 f. LVwVfG), der Untersuchungsgrundsatz (§ 24 LVwVfG) sowie die Beratung, Auskunft und Öffentlichkeitsbeteiligung (§ 25 LVwVfG). In der Klausur wird allerdings regelmäßig nur die Anhörungder Beteiligten (§ 28 LVwVfG) relevant. Sie ist unmittelbarer Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips. 67Obwohl die §§ 9 ff. LVwVfG unmittelbar nur für Verwaltungsakte und öffentlich-rechtliche Verträge gelten (§ 9 LVwVfG), sind einzelne Vorschriften – als Ausprägung allgemeinerVerfahrens- und Rechtsstaatsgedanken– analog auch auf Realakte anzuwenden, dazu zählt insb. die Anhörung. 68
64Hinsichtlich der Formbestehen im Gutachten nur selten Probleme. Es ist auf eine besondere Formvorschrift im Fachgesetz zu achten, ansonsten kann ein Verwaltungsakt schriftlich, mündlich oder ggf. auch konkludent erlassen werden, § 37 Abs. 1 LVwVfG. Im Regelfall wird er schriftlich erlassen und ist sodann auch zu begründen, § 39 Abs. 1 LVwVfG. Im Bescheid sollte – aus oben dargelegten Gründen – der Begründungspflicht sorgsamer nachgekommen werden, als dies zumal geschieht und gelehrt wird. Die Begründung dient nicht zuletzt auch der Selbstkontrolle: Wenn Sie einen Verwaltungsakt nicht überzeugend begründen können, sollten Sie ihn eventuell nicht erlassen.
65Letzter Verfahrensschritt ist sodann die Bekanntgabe. Sie kann per Telefax, E-Mail, Brief, Telefon, persönlich oder auf andere Weise geschehen. Regelfall dürfte noch immer der einfache Postbrief oder – aus Beweisgründen über den Bekanntgabezeitpunkt – die Zustellung durch die Post nach § 3 Abs. 1 LVwZG BW (Postzustellungsurkunde, PZU) sein.
Anmerkung zur Bekanntgabe
Die Bekanntgabe an sich ist keine formelle Voraussetzung im engeren Sinn, sie ist vielmehr Voraussetzung für die Existenz des Verwaltungsaktes schlechthin, § 43 Abs. 1 S. 1 LVwVfG. Verwaltungsgerichte würden die erfolgte Bekanntgabe daher etwa in der Zulässigkeit der Klage prüfen, nicht (mehr) in den formellen Voraussetzungen in der Begründetheit. Verwaltungsbehörden prüfen hingegen alle Vorschriften und Verfahrensschritte, die zum Erlass notwendig sind. Dazu zählt auch die Bekanntgabe sowie die Frage, auf welchem Wege der Verwaltungsakt bekannt zu geben ist. Sie kann auch als letzter Schritt unter „Verfahren“ oder, insoweit es um die Frage geht wie bzw. in welcher Form eine Bekanntgabe zu erfolgen hat, unter „Form“ geprüft werden. 69
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