Eine Sonderstellung haben die TA Luftund die TA Lärminne. Sie sind Verwaltungsvorschriften bei deren Erlass ein Verfassungsorgan (der Bundesrat), das an der Gesetzgebung mitwirkt, beteiligt war, § 48 BImSchG. Wegen dieses (aufwendigen) Verfahrens wird ihnen eine normkonkretisierende Wirkungzugesprochen, sodass sie – ausnahmsweise – auch von den Gerichten beachtet werden.
34Nur geringe Bedeutung hat ungeschriebenes Recht. Hierunter fallen aus geschriebenem Recht abgeleitete Prinzipien einerseits und das sog. Gewohnheitsrecht andererseits. Es kann auf allen Ebenen der Normenhierarchie vorkommen und spielt in der Praxis hauptsächlich im Staatshaftungsrecht eine Rolle.
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Normenhierarchie (vereinfachter Überblick)
|
Gesetz im formellen oder materiellen Sinne |
Erlassende Stelle |
Unmittelbare Außenwirkung |
UnionsrechtEUV, AEUV, Richtlinien, Verordnungen, Beschlüsse |
Formell und materiell |
Europäisches Parlament und Europäischer Rat |
Ja |
VerfassungGrundgesetz Landesverfassung |
Formell und materiell |
Bzgl Änderungen: Verfassungsändernder Gesetzgeber, Art. 79 Abs. 1 GG |
Ja |
ParlamentsgesetzBImSchG, StVG, GewO, PolG BW, GemO BW, LBO BW, LHO |
Formell und materiell |
Bundestag und Bundesrat; Landtag |
Ja |
(Rein) formelles ParlamentsgesetzHaushaltsgesetz 2020, Staatshaushaltsgesetz 2020/2021 |
Formell |
Bundestag; Landtag |
Nein, Verpflichtung richtet sich nur an Exekutive im Innenverhältnis |
RechtsverordnungStVO, BauNVO, 4. BImSchV, Polizeiverordnungen |
Materiell |
Jede (ermächtigte) Stelle der Exekutive |
Ja |
SatzungenHauptsatzung, Bebauungsplan |
Materiell |
Jede Selbstverwaltungskörperschaft |
Ja |
VerwaltungsvorschriftenVV-LHO, VwV-StVO |
Mangels unmittelbarer Außenwirkung kein Gesetz |
Jede Stelle der Exekutive |
Grundsätzlich nein, ggf. mittelbar über Art. 3 Abs. 1 GG |
2.Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
36Unter dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung versteht man einerseits den Vorbehalt des Gesetzes und andererseits den Vorrang des Gesetzes. Unter dem Vorbehalt des Gesetzesversteht man, dass die Verwaltung nur handeln darf, wenn sie durch ein formelles Gesetz dadurch ermächtigt wird („Kein Handeln ohne Gesetz“). Dies gilt unstreitig für den gesamten Bereich der Eingriffsverwaltung (also bei „klassischen Eingriffen“). Darüber hinaus ist streitig, ob auch bei bloß mittelbar-faktischen Eingriffen oder in der Leistungsverwaltung eine Rechtsgrundlage benötigt wird. 21Unter dem Vorrang des Gesetzesversteht man die Bindung der Exekutive an die bestehenden Gesetze, einschließlich des Verfassungs- und Europarechts („Kein Handeln gegen das Gesetz“).
37Die einzelnen Auswirkungen dieses tragenden Grundsatzes für das Verwaltungshandeln bzw. das Prüfungsschema des Verwaltungshandelns werden sogleich unter → Rn. 57 ff. ausführlich erörtert. Hier sollen noch die unterschiedlichen Begriffe erläutert werden anhand des folgenden
Beispiels:
38V will am 20. April eine Versammlung „zu Ehren des Geburtstages von Albert Hitschler“ abhalten. V ist polizeibekannter Anhänger der rechten Szene. Der zuständige Sachbearbeiter S hält eine solche Versammlung für gefährlich und will die Versammlung verhindern.
Eine Verhinderung wäre für V belastend, denn sie beschränkt dessen Recht auf Veranstaltung einer Versammlung (Art. 8 Abs. 1 GG). Daher benötigt S eine gesetzliche Rechtsgrundlage zum Einschreiten ( Vorbehalt des Gesetzes). Weil V eine Versammlung unter freiem Himmel i. S. d. Art. 8 Abs. 1 GG plant, wäre eine Verhinderung ein Eingriff in das Grundrechtder Versammlungsfreiheit des V. In die Versammlungsfreiheit kann nur durch oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, Art. 8 Abs. 2 GG (grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt). Eine Verhinderung stellt einen intensiven Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar, sodass der parlamentarische Gesetzgeberdie wesentlichen Voraussetzungen für die Verhinderung selbst regeln muss und nicht der Verwaltung überlassen darf ( Wesentlichkeitsvorbehalt 22). Die konkreten Vorgaben des Einschreitens müssen vom Gesetzgeber auch inhaltlich hinreichend bestimmt formuliert sein ( Bestimmtheitsgrundsatz).
Eine Rechtsgrundlage zum Einschreiten stellt § 15 Abs. 1 VersG dar. Es ist ein Parlamentsgesetz und beinhaltet die wesentlichen Voraussetzungen des Verbotes (erkennbare Umstände; unmittelbare Gefahr der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung), nennt in Abs. 2 sogar beispielhafte Konkretisierungen für Verbote. Obwohl die Begriffe der unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung sehr weit gehen, haben sich mittlerweile in Rechtsprechung und Verwaltungspraxis handhabbare Definitionen dieser Voraussetzungen etabliert. Die Rechtsgrundlage genügt daher auch dem Bestimmtheitsgrundsatz. 23Damit S nun eingreifen kann, müssen alle materiellen und formellen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage (und sonst einschlägiger Gesetze) eingehalten werden ( Vorrang des Gesetzes).
3.Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
39Zu den größten Errungenschaften des deutschen Rechts zählt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 24Er hat sich als „Exportschlager“ im Rechtssystem der Europäischen Union bewährt. Er besagt, dass jedes staatliche Handeln, das in (Grund)Rechte eingreift, einem legitimen Zielfolgen, hierzu objektiv geeignet, erforderlichund auch angemessensein muss. Geeignet bedeutet, dass das Mittel tauglich ist, den Zweck zumindest zu fördern. Erforderlich bedeutet, dass das Mittel unter mehreren gleich geeigneten Mitteln das mildeste darstellt. Angemessen bedeutet, dass die konkreten Vor- und Nachteile der Maßnahme nicht erkennbar außer Verhältnis zueinanderstehen.
Während Geeignetheit und Erforderlichkeit das Mittel selbst im Blick haben, bezieht sich die Angemessenheit auf die durch das konkret ausgewählte Mittel betroffenen Interessen. Bei Geeignetheit und Erforderlichkeit muss also eine Einschätzung der Eignung des konkreten Mittels und der Alternativen vorgenommen werden. Bei der Angemessenheit muss eine Abwägung der Folgen der Maßnahme vorgenommen werden.
40Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erlangt große Bedeutung im Rahmen der Grundrechtsprüfung: Ein Eingriff in ein Grundrecht kann nur dann rechtmäßig bzw. verfassungskonform sein, wenn er auch verhältnismäßig ist. Wo genau er verankert wird, ist jedoch umstritten. Wohl überwiegend wird er direkt aus den jeweiligen Grundrechten hergeleitet, teilweise auch pauschal dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnet. Teilweise kommt er auch in einfachen Gesetzen vor, siehe § 5 PolG BW, § 19 Abs. 2, 3 LVwVG BW.
41Letztlich dient der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor allem dem Ausgleich entgegenstehender Interessen und gibt die Antwort auf die Frage, wie diese Interessen in Einklang miteinander gebracht werden können. Wichtig für das Verständnis ist, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine starre Lösung des Falles vorgibt. Er trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, dass ein konkreter Fall in rechtmäßiger Weise oftmals auf mehrere Arten gelöst werden kann. Das ist aber kein „Freibrief“ für die Verwaltung, sondern bedeutet, dass die Verwaltung eine umfassende Einschätzung und Abwägung anstellen und diese auch begründen muss. Insb. an der Begründung scheitert es allerdings häufig in der Praxis und Klausurbearbeitung.
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