52Obwohl sich der effektive Rechtsschutz hauptsächlich im gerichtlichen Verfahren auswirkt, hat er auch eine bestimmte „Vorwirkung auf das Verwaltungsverfahren“. 47Daraus können vor allem erhöhte Anforderungen an die Begründung des Verwaltungshandelns gestellt werden, wie bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung(§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). 48
Gerade die Anordnung der sofortigen Vollziehung wird in Praxis und Klausur oft ungenügend begründet, obwohl § 80 Abs. 3 VwGO unmittelbar die besondere Begründung anordnet. Folge fehlerhafter Begründung ist die sofortige Stattgabe des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht. Es ist schon aus diesem Grund wichtig, die gegenüberstehenden Abwägungspositionen genau zu erfassen: Das Interesse des Adressaten an einem effektiven Rechtsschutzvor Durchführung der angeordneten Maßnahme und das besondere Interesse der Allgemeinheit an einer ausnahmsweise sofortigen Vollziehung. Es dürfte offenkundig sein, dass es sich hierbei um Fragen der Eilbedürftigkeitbzw. Dringlichkeit dreht. 49Es genügt daher nicht, die Ermessensbegründung der Hauptentscheidung zu wiederholen. 50Es muss dargelegt werden, welche Risiken in welchem Zeitraum mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich um einen gravierenden Eingriff in das Recht auf effektiven Rechtsschutz und ggf. andere Grundrechte handelt. Auf keinen Fall dürfen floskelartigeFormulierungen oder bloße Textbausteineverwendet werden, die in einer Vielzahl anderer Fälle verwendet werden könnten. 51Siehe zur Umsetzung → Fall 9 und Fall 13.
53Begründungsbeispiele für die sofortige Vollziehung
Schuhverkäufer S hat 10.000 € Steuerschulden und 15.000 € Schulden gegenüber seinen Lieferanten. Bei drei Vollstreckungsversuchen konnte kein Geld beigetrieben werden. Er wurde ferner wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Weil S uneinsichtig ist, ordnet die zuständige Gewerbebehörde die Untersagung der gewerblichen Tätigkeit (§ 35 Abs. 1 S. 1 GewO) sowie die sofortige Vollziehung dieser Maßnahme (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) an.
Voraussetzung für die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses, welches das Interesse des Adressaten an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs übersteigt.
54Eine ungenügende Formulierung – wie sie in Klausur und Praxis häufig vorkommt – lautet etwa: „Das besondere öffentliche Interesse liegt im Haushaltsinteresse und dem Schutz der Allgemeinheit vor straffälligen Gewerbetreibenden. Ihr Interesse ist zwar hoch zu gewichten (starker Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG), aber das öffentliche Interesse überwiegt.“
In dieser Formulierung werden der Einzelfall und dessen konkrete Auswirkungen nicht gewürdigt. Es bleibt für den Adressaten unklar, warum der Fall derart dringlich ist, dass ausnahmsweise eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs entfällt.
55Ausreichend bis gut: „Das besondere öffentliche Interesse liegt darin, den öffentlichen Haushalt vor weiteren Steuerschulden zu schützen. Sie haben bereits 25.000 € an Schulden. Ferner sind Sie straffällig geworden, sodass die Allgemeinheit auch vor weiteren Straftaten geschützt werden soll. Dem gegenüber hat Ihr Interesse, zunächst ein Rechtsbehelfsverfahren durchzuführen, zurückzustehen.“
Die Dringlichkeit wird implizit durch die Höhe der Steuerschulden und dem Verweis auf eine Straftat dargelegt, konkret abgewogen für die Zukunft wird jedoch nicht.
56Gut bis sehr gut: „Das besondere öffentliche Interesse überwiegt Ihr Interesse an der aufschiebenden Wirkung eines etwaigen Rechtsbehelfs. Es liegt darin begründet, dass die Allgemeinheit vor weiteren Steuerschulden und Ihre Lieferanten und Kunden vor unbezahlten Rechnungen und Wuchergeschäften zu schützen sind. Trotz erheblicherSchulden (25.000 €) und Zahlungsunfähigkeit ( 3 erfolglose Vollstreckungsversuche) betreiben Sie weiter Ihr Gewerbe. Zwar wurde Ihre Strafe zur Bewährung ausgesetzt, sodass von einer positiven Prognose auszugehen ist (§ 56 StGB). Sofern wir allerdings Ihre Gewerbeausübung weiterhin zuließen, ist hinreichend wahrscheinlich, dass sich Ihre gewerbebezogenen Schulden weiter anhäufenund Sie daher andere unlautere Methodenwählen könnten oder zumindest künftig weitere Schuldenaufbauen werden. Dies kann bei einer voraussichtlichen Dauer eines Rechtsbehelfsverfahrens von ca. einem Jahr zu erheblichen finanziellen Schädenbei Dritten führen. Der Schutz Dritter vor diesen Schäden überwiegt Ihr Interesse an der vorherigen Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens.“
Hier werden die Tatsachen (Höhe der Schulden, Anzahl der Vollstreckungsversuche) bewertet (erheblich) und zur Grundlage einer nachvollziehbaren negativen Prognose (hinreichend wahrscheinlich, weitere Anhäufung) der Dringlichkeit herangezogen. Damit wird der Fall umfassend bewertet und nachvollziehbar begründet, warum der Ablauf eines eventuellen Rechtsbehelfsverfahrens nicht abgewartet werden kann.
C.Die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht als Grundlage des Prüfprogramms
57Wie oben erläutert, werden die Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung maßgeblich durch den Gesetzgeber bestimmt und begrenzt. Das folgt aus der Bindung der „vollziehende[n] Gewalt […] an Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3 GG). Aus dieser Bindung lassen sich die grundlegenden Prüfungspunkte des Verwaltungshandelns(insb. für den Erlass eines Verwaltungsaktes) herleiten.
58Zunächst besagt der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, dass die Verwaltung nicht ohne Gesetz handeln darf. M. a. W. benötigt die Verwaltung eine Rechtsgrundlage, um handeln zu dürfen. Das ist für die Eingriffsverwaltung (belastende Verwaltungsakte) unstreitig. Für die Leistungsverwaltung (begünstigende Verwaltungsakte) wird überwiegend vertreten, dass jedenfalls kein formelles Parlamentsgesetz notwendig ist, sondern jeder parlamentarische Akt genügt. 52Es ist daher ausreichend, wenn Leistungen im Haushaltsplan (der durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird) vorgesehen sind.
Unter diesem ersten Prüfungspunkt der Klausur beschränkt sich die Prüfung in der Regel auf die Nennung der einschlägigen Rechtsgrundlage. Kommen mehrere Rechtsgrundlagenin Betracht, müssen alle genannt und voneinander abgegrenzt werden. Sodann muss entsprechend des Konkurrenzverhältnisses die für den Fall einschlägige Norm herausgearbeitet werden. 53
Zwar muss die Rechtsgrundlage rechtmäßigbzw. verfassungsmäßig sein, das wird von der Verwaltung im Grundsatz aber nur selten geprüft. Denn erstens fehlen ihr die zeitlichen Ressourcen und zweitens die sog. Verwerfungskompetenz. Allein die Gerichte können Gesetze für unwirksam erklären („verwerfen“). 54Von diesem Grundsatz gibt es zwei wichtige Ausnahmen 55: (1) Wenn Rechtsnormen der Verwaltung (Bebauungspläne, Polizeiverordnungen, Steuersatzungen, …) die Rechtsgrundlage darstellen und (2) wenn Unionsrecht entgegensteht. In ersterem Fall kann nämlich die Verwaltung selbst die rechtswidrige Norm ändern oder beseitigen, dazu → Online-Fall 5 56, → Fall 1. In letzterem Fall darf die Verwaltung ggf. die nationale Norm unangewendet lassen. 57
59Der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzesbesagt sodann, dass die Verwaltung nicht gegen das Gesetz handeln darf. Sie muss also die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage einhalten und darf nicht über das hinausgehen, was ihr gesetzlich ermöglicht wird. Diese Prüfung wird aufgeteilt in die materielle Rechtmäßigkeit und die formelle Rechtmäßigkeit des Handelns. In der materiellen Rechtmäßigkeitmüssen die Tatbestandsvoraussetzungen und die Rechtsfolge der Rechtsgrundlage (und ggf. verbundener Normen) geprüft werden.
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