66Zusammengefasst ergibt sich abgeleitet aus dem Staatsrecht folgendes allgemeines Prüfungsschema:
Prüfungsschema Verwaltungsakt
I. Rechtsgrundlage (kein Handeln ohne Gesetz)
Bei begünstigendem Handeln genügt entsprechender Posten im Haushalt
(ggf. Abgrenzung aller in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen)
(ggf. Prüfung der Rechtmäßigkeit der Rechtsgrundlage [wenn Rechtsgrundlage = Satzung oder Rechtsverordnung])
II. Materielle Voraussetzungen (kein Handeln gegen das Gesetz)
1. Tatbestand
Alle Tatbestandsvoraussetzungen, die sich ergeben aus:
– der Rechtsgrundlage
– der Struktur des Gesetzes (in der Gewerbe ordnung stets „ Gewerbe “, im Gaststätte ngesetz stets „ Gaststätte “, im Versammlung sgesetz stets „ Versammlung “)
– der Struktur des Rechtsgebietes
(im Ordnungsrecht ist bspw. der Rückgriff auf das PolG BW möglich, etwa zur Frage, ob gegen einen Nichtstörer i. S. d. § 9 Abs. 1 PolG BW vorgegangen werden kann)
Ggf. ist eine Auslegung der Tatbestandsmerkmale (= Definitionen) notwendig nach Wortlaut, Systematik, Sinn, Historie – sowie seltener auch eine verfassungs- oder unionsrechtskonforme Auslegung
2. Rechtsfolge
a) Adressatenwahl, wenn mehrere vorhanden
b) bei Ermessensvorschriften: Ausübung nach Vorgabe des § 40 LVwVfG
Selten: Entschließungsermessen
Stets: Auswahlermessen
Insb. Prüfung der Verhältnismäßigkeit, bei intensiven Eingriffen vollständige („große“) Grundrechtprüfung eines oder mehrerer Grundrechte, Grundfreiheiten oder der EMRK.
c) Bestimmtheit
d) Keine (rechtliche oder tatsächliche) Unmöglichkeit
III. Formelle Voraussetzungen (kein Handeln gegen das Gesetz) 70
1. Zuständigkeit
a) sachlich, in der Regel in Verbindung mit § 15 LVG BW
b) örtlich, in der Regel aus § 3 LVwVfG
2. Verfahren
a) Beteiligte, §§ 11 ff. LVwVfG
(ggf. andere Behörden, § 13 Abs. 2 LVwVfG, § 35 Abs. 4 GewO, § 53 Abs. 3, 4 LBO BW, …)
b) Keine ausgeschlossenen oder befangenen Personen, §§ 20 f. LVwVfG
c) Anhörung, § 28 LVwVfG
3. Form
a) Form des Verwaltungsaktes, § 37 Abs. 2 LVwVfG
(in der Regel formfrei; ggf. Sondervorschriften, § 34 Abs. 1 S. 2 PolG BW, § 58 Abs. 1 S. 3 LBO BW, …)
b) Begründung, § 39 Abs. 1 LVwVfG
4. Bekanntgabe
§ 41 Abs. 1 LVwVfG; ggf. aus Beweisgründen per PZU, wenn belastender Inhalt, § 41 Abs. 5 LVwVfG, § 3 Abs. 1 LVwZG BW
2. KapitelGrundrechte des deutschen Verfassungsrechts
67Die Grundrechte stehen im Grundgesetz an erster Stelle. Sie sind für das gesamte staatliche Handeln von herausragender Bedeutung, lies Art. 1 Abs. 3 GG. Diese Bedeutung kommt an vielen Stellen des Verwaltungshandelns zum Tragen: Die Grundrechte beeinflussen die Auslegung der Tatbestandsmerkmale, begrenzen das Verwaltungshandeln oder führen zu einklagbaren Schutzansprüchen des Bürgers gegen die Verwaltung.
Für die Fallbearbeitung müssen daher zunächst die Funktionen der Grundrechte, deren Prüfung und der Einbau in die Fallbearbeitung verstanden werden, bevor man sich sodann den einzelnen Grundrechten nähert.
A.Funktionen der Grundrechte
68Grundrechte haben unterschiedliche Funktionen. Die häufigste Fallkonstellation betrifft die Funktion als Abwehrrecht, der Freiheit vor dem Staat 1. Hierbei handelt es sich um die ureigene Funktion der Grundrechte, wie sich insb. aus dem Wortlaut der Grundrechte ergibt („unantastbar“, „unverletzlich“, …). Sie wird etwa in der klassischen Anfechtungskonstellation relevant: Der Bauherr wehrt sich gegen eine Abbruchsanordnung, weil er seine Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 GG verletzt sieht.
Daneben bestehen weitere, für die Verwaltung wichtige Funktionen wie die Schutzpflichtendes Staates (Anspruch auf Einschreiten gegen einen störenden Industriebetrieb) sowie diejenige des Leistungsrechts(Anspruch auf Sozialhilfe) und des Teilhaberechts(gleicher Zugang zur Stadthalle). Diese drei Ausprägungen können als Freiheit durch den Staat 2charakterisiert werden. Sie ergeben sich nicht so eindeutig aus dem Wortlaut der Grundrechte wie das jeweilige Abwehrrecht. Das BVerfG leitet sie aus dem sog. objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte ab. 3
Daneben gibt es noch Mitwirkungsrechte, wie das Wahlrecht oder der Zugang zu öffentlichen Ämtern. Hier handelt es sich um Freiheit an der staatlichen Willensbildung. 4
Die Einordnung des jeweiligen Falls in eine dieser vier Konstellationen hat Auswirkungen auf das Prüfungsschema des Grundrechts sowie den Umfang bestimmter Prüfungspunkte (etwa die Widerspruchsbefugnis).
I.Der Standardfall: Grundrechte als Abwehrrechte
69 In erster Liniesind Grundrechte Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und begrenzen insofern die Reichweite staatlichen Handelns (insb. als gesetzliche Grenze des Verwaltungsermessens i. S. d. § 40 LVwVfG). Dies ist allgemein anerkannt und muss – im Gegensatz zu Schutzpflichten – nicht erörtert oder hergeleitet werden. Grundrechte sind weder im Bürger-Bürger- noch im Staat-Staat-Verhältnis anwendbar.
Ein Nachbar wird daher nicht in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG „verletzt“, wenn die Bar im Nebengebäude nachts zu laut ist (häufiger Formulierungsfehler in Klausuren). Beleidigt Autofahrer A den Autofahrer B durch die allseits bekannte Mittelfinger-Geste, greift A nicht in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) des B ein.
70Werden Grundrechte als Abwehrrechte geprüft, spitzt sich die Prüfung letzten Endes auf die Verhältnismäßigkeitder staatlichen Maßnahme zu. Hier wird die Verhältnismäßigkeit in Form des sog. Übermaßverbotes relevant: Ist der Eingriff so intensiv, dass er nicht mehr verhältnismäßig ist? Gefragt wird nach der äußeren Grenze des staatlichen Handelns.
Davon zu unterscheiden ist das sog. Untermaßverbot, das insb. bei Schutzpflichten des Staates relevant wird: Hat eine Untätigkeit des Staates derart gravierende Folgen für den Bürger, dass es unverhältnismäßig ist? Gefragt wird hier nach dem Minimum des staatlichen Einschreitens, dazu → Online-Fall 1 5, → Fall 5.
Die Verwaltung kann im Rahmen ihres Ermessens diejenigen Maßnahmen durchführen, die zwischen diesen beiden (von Fall zu Fall unterschiedlichen) Grenzen liegen.
Will die Verwaltung gegen eine lärmende Industrieanlage mit einer Anordnung nach § 17 Abs. 1 BImSchG einschreiten, hat sie im Regelfall die Berufsfreiheit des Anlagenbetreibers (Art. 12 Abs. 1 GG) zu berücksichtigen. Zu prüfen ist in dieser Hinsicht, ob etwa die Anordnung einen unverhältnismäßig hohen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG darstellt (Übermaßverbot). Kommt sie im Laufe der Sachverhaltsaufklärung zu dem Schluss, dass damit gewichtige Einschränkungen der Anlage einhergehen, kann sie sich grundsätzlich auch gegen ein Einschreiten entscheiden. Es liegt auf der Hand, dass ein Unterlassen der Anordnung das Übermaßverbot nicht verletzen kann.
Stört der Lärm jedoch Nachbarn, könnte das Unterlassen der Verwaltung deren Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) verletzen (Untermaßverbot). Hier ist also noch zu prüfen, ob die Verwaltung tätig werden muss, ein Unterlassen also rechtswidrig wäre.
71Wehrt sich jemand gegen eine ihn belastende Maßnahme des Staates, so ist er regelmäßig widerspruchs- und klagebefugt. Das ergibt sich aus der Funktion der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) als sog. Auffanggrundrecht. Es ist daher nie gänzlich auszuschließen, dass ein Adressat (und nur er) nicht zumindest in Art. 2 Abs. 1 GG durch eine belastende Maßnahme verletzt sein könnte (sog. Adressatentheorie).
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