In seinen Stolz mischte sich Dankbarkeit, und so sprach er mit seinem Sohn bis zu dessen fünftem Geburtstag nur deutsch. Dann schickte er Segal mit der Mutter zum Englischlernen nach Cambridge. Nach einem Jahr Winstons Entzücken über die Sprachfertigkeit seines Sohnes. Und schließlich, im August 1914, die grässliche Gewissheit, dass er und seine Familie überrascht worden waren. Der Krieg. England gegen Deutschland. Sie saßen in der Falle, und Segal war mit einem Mal der Feind.
Ein Junge aus seiner Klasse beschloss, den dreckigen Engländer Mores zu lehren. Er traktierte ihn so lange mit einer Eisenstange, bis Dolphin zu Boden ging und sich beim Fallen die Zunge durchbiss. In seinem Mund explodierte ein Schmerz aus Splittern und Kanten, Zähne zerfetzten das Fleisch, und er brüllte, wie er sich noch nie hatte brüllen hören. Dolphin wusste nicht, wie er nach Hause gekommen war. Er brachte kein Wort heraus.
Der Hausarzt Dr. Benjamin sagte, es handle sich um einen Teilabriss, man müsse ständig kühlen und Geduld haben. Seine Mutter war außer sich. Sie schrie den Doktor an, er müsse auf der Stelle etwas tun. Doch Geld für eine Behandlung in der Charité hatten sie nicht. So dauerte es Wochen, bis er wieder zaghaft zu beißen versuchte. Zurück blieb eine Stelle, die für sein Gefühl niemals richtig verheilt war. Er konnte den Riss fühlen, vor allem, wenn etwas zu heiß war, und es blieb eine Verunsicherung, die er nicht in Worte fassen konnte.
Weil sein Vater es ablehnte, sich als Deutscher naturalisieren zu lassen, wurde er als feindlicher Ausländer interniert.
Mutters Gesicht war eine einzige Sorge.
Die ständige Angst, ertappt zu werden.
Sie bewegten sich wie Diebe durch die Tage.
Drei Jahre lang schreibt der Vater Bittschriften, bis die Behörden nachgeben und die Familie im Mai 1917 nach England ausreisen darf.
In London fühlt Segal sich als Flüchtling. Ein Jugendlicher, der nicht ganz sicher ist, ob er dort wirklich hingehört.
Das Rudern hilft, auch für das College in Oxford, wo er mit dem Achter bei der Henley-Regatta triumphiert. Dann das enttäuschende magna cum laude im Schlussexamen, auch die Bestnote in Germanistik kann kein summa herbeizaubern.
Schließlich das Schicksal in Gestalt eines kleinen Mannes mit wuchtigem Schädel und buschigen Brauen, der ihn grinsend fragt: »Mr. Dolphin, möchten Sie für den Daily Standard nach Berlin gehen?«
Was Lord Bakerfield in ihm sah, wusste er nicht so recht einzuschätzen. Ebenso wenig, wie er zu der Ehre kam, dass der Verleger ihn anlässlich der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags in den Colony Room einlud, der hinter einer Enfilade aus Empfangssalon, Bibliothek und Arbeitszimmer lag und nur wenigen Auserwählten vorbehalten war, wie ihm die Sekretärin zugeflüstert hatte.
Der Saal war mit einer Täfelung aus Tropenholz und Ledersesseln ausgestattet, und nachdem man in ihnen versunken war, wies der Lord auf die Trophäen, die effektvoll illuminiert waren. Mit dem Stolz des Großwildjägers betrachtete er Löwen- und Leopardenfelle, Elefantenstoßzähne, Nashornkopf und Büffelschädel und klärte Dolphin darüber auf, dass es sich um die Big Five handelte. Ein fragender Blick genügte, um zu erfahren, dass sich die Größe nicht in erster Linie auf die Statur der Tiere bezog, sondern vorwiegend auf die damit verbundenen Gefahren bei der Jagd.
Besonderes Vergnügen bereitete ihm darüber hinaus die Tatsache, dass er seine Beute auf dem Boden der Südafrikanischen Union, notabene im früheren Deutsch-Südwestafrika, erlegt habe. So seien es auch Trophäen, die ihn für immer an das schmachvolle Ende von Wilhelm dem Zweiten erinnerten, der, obgleich ein Enkel Königin Victorias, die Niedertracht besessen hatte, das United Kingdom anzugreifen.
Lord Bakerfield gluckste und zeigte auf die Masken an der Wand gegenüber, die im Schein des Kaminfeuers lebendig wurden und darauf zu warten schienen, ob sich auch die präparierten Tiere regten. Helm-und Kopfaufsatzmasken , kommentierte er fachmännisch, die meisten aus dem letzten Jahrhundert, aber keine nach 1918, doch das Amüsante daran sei, dass auch sie aus einer ehemaligen deutschen Kolonie stammten.
Da ihm nicht verborgen blieb, dass sein Gast sich nicht vom Anblick der Objekte losreißen konnte, fragte er diesen, ob er raten wolle.
Dolphin zuckte zusammen. Wie stumme Zuschauer schienen sie die Szenerie zu mustern. Antlitze, deren Träger verschwunden und doch anwesend waren.
Nach einer Pause sagte er schnell: »Deutsch-Ostafrika«, und als der Verleger die Stirn runzelte, verbesserte er sich, nein, »Kamerun« müsse es heißen, was mit einem anerkennenden Nicken quittiert wurde. Schließlich ließ der Lord die Sekretärin kommen, nahm Mappe samt Füllfederhalter entgegen und legte Dolphin den Vertrag zur Unterschrift vor, bevor er ihn mit einem launigen good luck entließ.
Auch als er am folgenden Tag am Schreibtisch saß, ging ihm die Schwimmerin nicht aus dem Kopf. Wo steckte sie bloß? Dolphin schaute zum soundsovielten Mal hinüber zur Wand. Neben einer Weltkarte tickten dort fünf Uhren, die er jeweils mit einem Schild versehen hatte: Berlin, London, Sydney, Ottawa und Kapstadt. Er wollte seine Besucher beeindrucken, sie mochten darin das Reich des Daily Standard erkennen, in dem, gleich dem British Empire, die Sonne niemals unterging.
In London war es jetzt 14.57 Uhr. Er musste etwas tun, es wenigstens versuchen. Er rief den Chef vom Dienst an, um ihm mitzuteilen, dass er womöglich Adolf Hitler an einem Wochenende nach Berchtesgaden begleiten könne, als erster ausländischer Journalist überhaupt, doch der Redaktionsleiter befand sich in einer Besprechung. Dann wartete er auf seinen Rückruf.
Kein Geringerer als SA-Chef Röhm hatte Dolphin versprochen, den Führer, einen Duzfreund aus alten Kampftagen, um ein Exklusivinterview zu ersuchen, nachdem er den englischen Reporter in seine Lieblingsbars geführt hatte. Dort trugen junge Männer Perücken, Gummibrüste und Schminke, und Röhm ließ seinen Blick über ihre knochigen Körper gleiten, als er, wie aus einer Spendierlaune heraus, seine Berchtesgaden-Offerte unterbreitete. Würde er sich überhaupt noch daran erinnern, und mehr noch: Wort halten? Und falls ja: Befände Dolphin sich dann überhaupt noch in Deutschland?
Erneut griff er zum Hörer, nur um zu erfahren, dass der Chef vom Dienst bereits zu einem anderen Termin aufgebrochen sei.
Dolphin schaltete die Schreibtischlampe an, schaltete sie aus. Draußen fiel Schneeregen. Der Kippschalter ging ziemlich schwer. Welch lächerliche Kraft war nötig, um Licht in die Welt zu bringen. On, Off , er wiederholte das Spiel.
Er schaute zur Uhr. In makelloser Parallelität waren die fünf Uhrzeiger auf vier Kontinenten um eine Minute vorgerückt. Wie wäre es, wenn er in den großen Berliner Zeitungen, eine Suchanzeige schalten würde? Aber las sie überhaupt jene Rubrik im hinteren Teil des Blatts, mit dem für die Deutschen so typisch bürokratischen Terminus Anschlussgesuche? Ihm würde fürs Erste die Nummer ihres Anschlusses genügen.
Nach einer weiteren Stunde reichte es ihm. Er hatte das Gefühl, dass die Welt sich in einen Wartesaal verwandelt hatte. Die Schwimmerin war abgetaucht. Hugo von Ernst meldete sich nicht. Ebenso der Chef vom Dienst. Kein Zeichen, trotz mehrmaligen Nachfragens, vom Kaiser-Wilhelm-Institut. Offenbar war immer noch nicht klar, wann der Direktor zurückkehren würde.
Kurz entschlossen fuhr er ins Romanische Café. Wenn die Welt schon einem Wartesaal glich, konnte man ebenso gut den verheißungsvollsten in Berlins Kulturwelt aufsuchen.
Er bekam ein Tischchen in der Nähe der Kuchentheke zugewiesen, die von einer Säule im romanischen Stil flankiert wurde. Es wurmte ihn, dass er vom Kellner im Hauptraum platziert wurde, den die berühmten Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Regisseure oder Journalisten Bassin für Nichtschwimmer nannten. Hier drängelten sich Leute, die seit Jahrzehnten nicht müde wurden, tagtäglich auf das Talent zu warten, wie der Schriftsteller Erich Kästner bemerkt hatte. Seinesgleichen residierte im Nebenraum. Dolphins Prominentenradar hatte erst kürzlich auf engstem Raum Dix, Remarque und Fritz Lang geortet. Verstohlen schaute er in diesen Bezirk, wo die Arrivierten sich lässig zuprosteten. Die Ungezwungenheit ihres Auftretens, die Gleichzeitigkeit fremder Blicke und scheinbarer Selbstvergessenheit, das alles trug zum Eindruck einer Natürlichkeit bei, die unverstellter nicht sein konnte. Man bewegte sich, als sei man im eigenen Wohnzimmer, nur mit dem Unterschied, dass dieses im Bewusstsein der Protagonisten in die Kulissen eines Filmstudios verlegt worden war.
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