Die Schwimmerin plötzlich neben ihm an der Bar, mit dunklem nassem Haar und einem Lächeln, bei dem sie ein Stück Zahnfleisch zeigt
Warum sie einen Hosenanzug anhat und eine Leica in der Hand hält, weiß er nicht, dafür sprechen sie eine Ewigkeit über Kleinbildkameras, Belichtungszeiten und, ja, Vogelperspektiven
Ihre Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, das Zahnfleisch: Es kommt ihm vor, als zeige sie Wunden, die sie nicht hat
Warum überall so viel Eis? In den Gläsern, im Pissoir, im November?
Sie sprechen und trinken, als seien sie vor dem Verdursten
Irgendwann werden sie von jemanden fotografiert
Die kontrollierenden Blicke ihrer älteren Geliebten, so streng wie ihr Jungenscheitel
Leere Gläser voller Gin
Fast fällt sie herunter, als sie auf den Barhocker steigt, um ihn aus der Vogelperspektive zu fotografieren
Wieder die eifersüchtige Geliebte, ihr linkisches Zerren an der Leica, erfolgreich letztlich, ihr Abgang unter schweizerdeutschen Flüchen
Später Gelächter: Was hat Ablichten mit Abblitzen zu tun?
Ja, bei den Hottentotten wünscht er sich von dem Pianisten, doch der tut so, als ob er noch nie davon gehört habe und klappt den Klavierdeckel herunter
Wie lange er schon im Stau stand, konnte er nicht sagen. Erst, als ein Lastkraftwagen hinter ihm hupte, legte er den Gang ein und fuhr an. Er fühlte sich frischer, vielleicht war es die kalte Luft, die hereinströmte, vielleicht tat die Tablette ihre Wirkung. Er hatte sie von Dr. Benjamin, der ihn schon seit Kindheitstagen behandelte, gegen einen hartnäckigen Schnupfen verschrieben bekommen, und das Mittel hatte die wohltuende Nebenwirkung, dass man hellwach wurde. In letzter Zeit hatte er fast täglich eine Benzedrin genommen, bis ihn das Gefühl beschlich, damit aufhören zu müssen.
Als er endlich im Büro ankam, versuchte er Ella zu erreichen. Sie habe sich krankgemeldet, war die Antwort der Kollegin. Er probierte es zu Hause. Sie nahm nicht ab. Vielleicht schlief sie. Wahrscheinlicher schien ihm, dass sie gekränkt war, weil er sich gestern Abend nicht mehr gemeldet hatte. Ehe man es sich versah, war sie beleidigt. Und vermutlich wusste sie, dass er ohne sie ausgegangen war.
Er spürte, wie die Müdigkeit ihn übermannte, und schleppte sich vom Schreibtisch zum Diwan in der Ecke gegenüber, wo er in letzter Zeit immer häufiger übernachtete. Seine Fingerspitzen strichen über den Kelim, den er darübergeworfen hatte, und er versank in einen traumlosen Schlaf.
Er schrak auf, als der Fernsprecher klingelte. Wie lange war er eingenickt? Als er sich mühsam aufrichtete und nach dem Hörer griff, war niemand am Apparat. War es Ella gewesen? Oder London?
Das Mädchen im Badeanzug kam ihm in den Sinn. Hieß sie tatsächlich Sidonie ?
Irgendwie mussten sie mit einem Taxi in die Knesebeckstraße gekommen sein. Was er mit Bestimmtheit wusste, war, dass sie sich nicht hatte ausziehen lassen.
Sie hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt und selbst die Führung übernommen. Dolphin lag, nackt bis aufs Unterhemd, im Bett, während sie in die Küche ging, um nach etwas Trinkbarem zu suchen. Er war zu betrunken, um ihr zu folgen. Ihm war rätselhaft, woher sie diese Energie nahm. Die Energie einer, wie er hoffte, mindestens Einundzwanzigjährigen. Sie reichte ihm die Whiskyflasche und musterte ihn.
Sidonie klang viel zu onduliert für das kurze Haar und den drahtigen Körper, sie hatte nichts Welliges und Vielsilbiges. Etwas Entschiedenes ging von ihr aus. Selbst im größten Rausch schien sie in der Lage zu sein, ihr Gegenüber, ihre Nacktheit, das, was sie preisgeben wollte und was nicht, zu kontrollieren.
Irgendwann versuchte Dolphin, aus einem unbekannten Gefühl der Demütigung heraus, sie zu bezwingen. Er hielt sie fest. Seine Zunge wanderte über immer nasseres Fleisch. Er fühlte ihren Widerstand schwinden, bis ihr schmaler Körper vor und zurück schnellte, kämpfte mit ihr, sie hatte Bauchmuskeln aus Stahl, presste ihre Arme nach hinten, hatte sie so weit und wollte endlich in sie eindringen, als sie ihn plötzlich, mit Kräften, die unerklärlich schienen, von sich stieß. Er spürte einen grellen Schmerz, irgendetwas Feuchtes mitten im Gesicht. Seine Nase blutete. Sie war erschrocken und schaute sich hilflos um. Er öffnete die Nachttischschublade und griff nach einem Taschentuch.
Dann tranken sie abwechselnd aus der Flasche, bis sie ihm das Taschentuch wegnahm und das getrocknete Blut aus den Nasenlöchern lecken wollte. Es war grotesk und sehr aufregend.
Er wusste nicht mehr, wann es war, aber plötzlich wurde ihr kalkweißer Oberkörper von einem Lachkrampf geschüttelt. Sie zeigte auf die Packungen, die aus der Schublade quollen.
Sie wurde still und schaute ihm prüfend ins Gesicht. »So einer bist du also«, sagte sie lüstern. Und dann begann sie, sich langsam zu schmücken. Aufreizend langsam öffnete sie eine Sicherheitsnadel und stach sie in ihr Ohrläppchen. Es folgte der Nasenflügel und in absteigender Folge die Brustwarze links, rechts. Dann spreizte sie die Beine, wovon Dolphin sie abhalten wollte, doch sie umklammerte sein Hand-gelenk, stieß einen Zischlaut aus, tschtschtsch , um ihn zur Ruhe zu bringen, drückte fester. Und schließlich schaute sie ihn triumphierend an, als sie die letzte in die Schamlippen stach.
Dolphin empfand einen unbeschreiblichen Ekel und spürte, wie er eine Erektion bekam.
Er sagte seiner Sekretärin Bescheid und fuhr nach Hause. Er musste den Kopf freibekommen. Im Bad war es ganz still. Er schäumte sich das Gesicht ein, griff zum Rasierer und konzentrierte sich auf die Symmetrie der Links-rechts-Serie. Er stellte sich Ella vor, wie sie ihn beobachtete. Diese Vorstellung hatte, wenn er ehrlich war, ihren Reiz verloren. Wenn sie sich von hinten an ihn heranschlich und seinen Stiernacken küsste, führte das in der Regel zu einem Geschlechtsverkehr der konventionellsten Sorte. Oder sie weckte ihn, wie neulich, und entfachte eine Art von Leidenschaft, die sich als Strohfeuer entpuppte. Plötzlich tat sie ihm leid, doch das konnte er ihr unmöglich sagen.
Mit beiden Händen wusch er den Schaum weg und trocknete sich ab. Die Schwimmerin war noch immer vom Erdboden verschluckt. Warum meldete sie sich nicht? Sie wusste, wie er zu erreichen war. War ihre Geliebte schuld?
Wenn es nach Lord Bakerfield ginge, würde er sie nie mehr wiedersehen. Eine Frau, wie man sie nur in dieser Stadt treffen konnte.
Die meiste Zeit seines Lebens hatte Dolphin sich geschämt, in Berlin geboren zu sein. Sein Vater Winston Segal Dolphin war Brite und arbeitete an der Humboldt-Universität als Lektor für englische Sprache und Literatur. Zur Entbindung wollte seine Mutter Elizabeth, die aus Cambridge stammte, nicht ohne ihren Mann nach England fahren. So kam es, dass Segal Dolphin in einem Gartenhaus am Savignyplatz zur Welt kam und dank den Bemühungen des Generalkonsuls zum Untertan Seiner Majestät des Königs wurde.
Als Kind hatte er seinen Vater gefragt, woher der Nachname stamme, was nie befriedigend geklärt werden konnte. Auf Deutsch hieß es Delfin. Und Delfine gab es nicht einmal im Zoologischen Garten.
Umso seltsamer war, dass sein Großvater Malcolm Dolphin Walfänger gewesen war. Er hatte blaue Augen. Das war Vater wichtig. Ansonsten schien er froh zu sein, dass der Ärmelkanal zwischen ihm und seinem Erzeuger lag. Weit weg von dem Tranöl, das ihm als Kind eingeflößt worden war.
Winston war aus der Art geschlagen. Statt Wale zu jagen, kam er, ausgestattet mit einem Stipendium der Universität Oxford, nach Europa, wo ein Strohhut mit grün-weiß-roten Bändern Zeuge für den Studienaufenthalt in Neapel war, während ein Kochbuch, mit unzähligen Varianten der berühmten Klopse, auf die Zeit in Königsberg verwies. Schließlich Berlin, wo ihm der Professorentitel verliehen wurde.
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