Im Kino saß nur eine Handvoll Zuschauer. Sie lehnte sich in ihrer üppigen Blondheit zu ihm herüber und verstand es, ihr Madonnengesicht so ins Bild zu rücken, dass Dolphin das Geschehen auf der Leinwand nur noch aus den Augenwinkeln verfolgen konnte. Er vertiefte sich in das Dreieck aus Ellas Engelshaar, ihren blauen Augen und dem vielleicht etwas zu kleinen Mund. Wenn sie zuschaute und schwieg, konnte er sich darin versenken. Sie schien es zu mögen, wenn er die Linien ihres Gesichts studierte. Eigentlich konnte man gar nicht von Geometrie sprechen, es hatte, zu seinem leisen Bedauern, eher etwas Daunenweiches, das wenig Widerstände bot.
Plötzlich richtete sie sich auf. Dolphin sah, wie sich der Diener des Maharadschas seinem Herrn näherte. Der Mann mit dem mächtigen Oberkörper beugte sich zu seinem Gebieter hinab. Er flüsterte in dessen Ohr, finster dreinblickend, verstärkt noch durch den Kontrast zwischen tiefschwarzem Gesicht und blendend weißem Turban. Etwas Undurchdringliches ging von ihm aus, ein Gesicht wie eine Maske, mit polierten Wangenknochen, um die sich sichelförmig Lichtpunkte verteilten, Reflexe von Härte, von Stolz, der sich nicht brechen ließ, auch wenn er nun den indischen Domestiken gab.
Es entging Dolphin nicht, wie sich ihre Pupillen weiteten, als sie den Schauspieler betrachtete. Er tippte sie an. »Wer ist das?«
»Louis Brody«, wisperte sie ihm ins Ohr, »das müsstest du eigentlich wissen.«
Dolphin lachte. »Mich interessiert eher die indische Tänzerin. Gefällt er dir?« Über Conrad Veidt, den Hauptdarsteller mit den ebenmäßigen Zügen, die in einem edlen Bronzeton geschminkt waren, hatte sie noch nie ein Wort verloren.
»Aber nein«, protestierte sie und boxte gegen seinen Arm. Ihr gefielen doch keine Afrikaner! Aber gut spielen könne er. So groß, so schaurig, er mache einfach Effekt.
Es war sehr spät, als sie in die Knesebeckstraße kamen. Ella bestand darauf, noch ein Bad zu nehmen. Und dann weckte sie ihn, mit einer Leidenschaft, die er so nicht von ihr kannte. Wie immer blieb sie stumm, aber ihr Keuchen verriet eine Erregung, die Dolphin, obgleich er über einen Meter achtzig maß und die Schultern eines Sportruderers besaß, nicht vollständig auf sich beziehen konnte. Das Feuer flammte nur kurz auf, dann lag sie erschöpft neben ihm und schlief sofort ein. Er roch das Parfüm, das er ihr geschenkt hatte. Es hieß Tabu. Ein Duft mit einer orientalischen Note, hatte die Verkäuferin im Wertheim gesagt und ihm den Flakon überreicht, verpackt in Ellas Lieblingsfarbe. Er schien so schnell zu verfliegen wie ihr nächtlicher Rausch.
Als er am nächsten Morgen ins Büro kam, versuchte er es erneut bei Lord Bakerfield. Der Verleger, so wurde ihm knapp beschieden, habe sich in Klausur begeben und wünsche keinesfalls gestört zu werden.
Auch beim Kaiser-Wilhelm-Institut hatte er kein Glück. Professor Fischer sei leider noch immer auf Reisen, beschied ihm dessen Vorzimmerdame und riet dazu, es nächste Woche wieder zu probieren.
Um auf andere Gedanken zu kommen, ließ er sich aus dem Zeitungsarchiv die Filmrezensionen kommen. Mit schüchternem Stolz verkündete seine Sekretärin, dass sie auch Material über den Schauspieler aus dem früheren deutschen Schutzgebiet gefunden habe. Dolphin blätterte in den vergilbten Seiten und stellte fest, dass er mal Lovis , dann Lewis , schließlich Louis Brody geschrieben wurde, was sich allmählich durchzusetzen begann. Fest stand, dass er in der deutschen Kolonie Kamerun als Ludwig M’bebe Mpessa geboren und mit fünfzehn Jahren ins Reich gekommen war, wo er sich offenbar überraschend schnell als Sänger, Musiker, Tänzer und Boxer etablieren konnte. Seine erste Rolle als riesenhafter Schwarzer, der im Namen der Blutrache einen Weißen tötet, erhielt er in dem Kriminalfilm Das Gesetz der Mine. Und nach Kriegsende tauchte er dann regelmäßig in großen Produktionen wie Die Herrin der Welt, Der kleine Muck oder Die Boxerbraut auf, dass sogar in Filmkritiken seine schauspielerische Leistung gewürdigt wurde.
Er war so in seine Lektüre vertieft, dass er zusammenzuckte, als das Telefon klingelte. Der Chef vom Dienst fragte nach, ob Berlin nicht etwas für ihn habe. Vielleicht ein follow-up zur letzten Schießerei? Dolphin versprach, darüber nachzudenken und sich bald zu melden.
Er hatte sich in vorderster Linie befunden und unentwegt fotografiert, bis er plötzlich zwischen die Fronten geraten war. Auf der einen Seite verschanzten sich SA-Trupps hinter einem umgekippten Lastwagen, auf der anderen lagen Rotfrontkämpfer hinter Barrikaden aus Leitern und Gerüsten, die Bauarbeiter in voller Absicht hatten liegen lassen. Plötzlich wurde es ganz still, und er spürte jenes Vibrieren in der Lendengegend, das Angst und Lust verheißt. Der Kitzel schien ihm Konturen zu verleihen, die bislang verborgen geblieben waren. Er fühlte seinen Brustkorb anschwellen, den Rücken breiter werden, fühlte den Nacken, wo Nervenstränge hervortraten. Er zog ihn ein, als erwarte er einen Hieb, spürte die Schweißperlen auf seiner Stirn, wenn sich der Körper gegen die Auslöschung aufbäumt und sich gegen fremde Kräfte stemmt, die im Kopf schon zu wirken beginnen. Und dann hörte er das Sirren einer Kugel, die knapp an seiner Schläfe vorbeistrich. Er warf sich auf den Boden, rappelte sich auf und konnte sich im Kugelhagel in einen Hinterhof retten, wenn Rettung auch bedeutet, dass man in einer Ecke mit einer Eisenstange niedergeschlagen wird und bewusstlos liegen bleibt, bis der Schmerz sich meldet, sobald man erwacht. Später gelang es ihm, sich in die Notaufnahme zu schleppen. Zum Glück, sagte der diensthabende Arzt, habe er einen Dickschädel und eine Konstitution wie ein Pferd.
Der Zwischenfall hatte ihn nicht davon abgehalten, einen zweiseitigen Artikel mit einzigartigen Fotos von der Bürgerkriegsfront zu publizieren, der auch in anderen englischen Zeitungen nachgedruckt wurde. Der Chef vom Dienst hatte ihn eigens angerufen und zu der Reportage gratuliert. Es galt nun, die Geschichte weiterzudrehen. Vielleicht könnte Professor Borsig helfen. Er kannte den Pathologen, einen profunden Gin-Trinker und Liebhaber alles Britischen, aus der Bristol Bar. Der war sichtlich bemüht, seine Freude über Dolphins Anruf zu dämpfen, und brummte, er habe etwas für ihn, um der Story, und hier ließ er ein fast akzentfreies Oxford English hören, den nötigen background zu verschaffen. Die letzte Straßenschlacht hätte ihm jedenfalls neue Kundschaft beschert.
Als er die Leichenhalle im Neuköllner Bezirkskrankenhaus betrat, winkte der Professor ihn herbei. Dann schlug er die Decke um und enthüllte einen grauenhaft zugerichteten Körper. Dolphin spürte, wie sein Gegenüber ihn beobachtete. Er musste sich beherrschen, als er ein amüsiertes Zucken der Mundwinkel zu sehen glaubte, und rettete sich mit der Frage, wie es passiert sei.
Borsig erklärte in leierndem Tonfall, der Nachwuchskommunist sei auf dem Nachhauseweg zunächst mit einem Faustschlag gegen das Kinn niedergestreckt worden, rückwärts auf das Straßenpflaster gefallen, vom Angreifer mehrfach mit den Stiefeln ins Gesicht getreten, dann in Hüfthöhe wiederholt aufgehoben und fallen gelassen worden. Das ergäbe das typische Bild: schwere Schürfungen am Unterkieferwinkel und am Hinterhaupt mit Blutunterlaufung in der Hirnschwarte, dazu grobfleckige und flächig angeordnete Hämatome, die für Faustschläge und Tritte mit dem beschuhten Fuß sprächen.
Dolphin musste sich zwingen, die Leica hervorzuholen, um das zerstörte Antlitz zu fotografieren. Borsig kam langsam in Fahrt. Die Aussicht, in der meistgelesenen Zeitung des Empire zitiert zu werden, schien ihn zu beflügeln. Er zog die nächste Decke beiseite. »Oder hier, ein SA-Mann im gleichen Alter«, kommentierte er, und bei diesem Anblick musste Dolphin sich abwenden, »ein typischer Fall von Enthirnung samt scharnierartigem Aufklaffen des Schädels in der Bruchlinie.«
Читать дальше