3.7 Das Diasporajudentum
Der weitaus größere Teil des judäischen Volkes lebte nicht in Palästina, sondern in der Diaspora („Zerstreuung“). Seit dem babylonischen Exil waren Judäer und Judäerinnen im Zweistromland präsent, mit der Hellenisierung sowie nach der römischen Eroberung Judäas durch Pompeius (63 v. Chr.) verbreitete sich das judäische Volk in weiten Bereichen des Mittelmeerraums. Dies setzte sich nach den beiden Aufständen weiter fort.
(Juden und Nicht-Juden)
Die Verhältnisbestimmung zur nicht-jüdischen Umgebung reichte von strengster Abgrenzung (Antagonismus) über die verbindende Aufnahme hellenistisch-römischer Kultur (Akkulturation) bis zur vollständigen Aufgabe judäischer Identität (Assimilation). Die Orientierung an Identitätsmerkmalen des Judentums wurde anhand unterschiedlich gewichteter Kriterien gestaltet. Dazu gehörten die Einhaltung des Sabbats und der Speise- bzw. Reinheitsgebote, die Beschneidung, die Beschränkung von Heirat auf Judäer und Judäerinnen (Endogamie), die Mitgliedschaft in lokalen Synagogen und die bilderlose Verehrung des einen Gottes (s. o. 3.1.4).
(Assimilation / Akkulturation / Antagonismus)
Ein Beispiel für vollständige Assimilation ist Tiberius Julius Alexander, ein Neffe Philos von Alexandrien. Er machte innerhalb des römischen Heeres Karriere und war u. a. Prokurator von Judäa (46–48 n. Chr.), Statthalter von Ägypten (66–69 n. Chr.) und an der Belagerung Jerusalems (70 n. Chr.) beteiligt. Sein Onkel Philo hingegen repräsentiert mit seiner philosophischen Durchdringung jüdischer Kultur sowie seinem politischen Kampf um eine Integration des Judentums in das griechische Bürgertum Alexandriens den Versuch, bei entschiedener Bewahrung judäischer Identität diese mit hellenistischer Bildung und Kultur zu verbinden (vgl. auch 4Makk). Die strenge Abgrenzung zur nicht-jüdischen Umgebung schließlich zeigte sich u. a. in sozialen Bereichen, etwa durch die Trennung von Nicht-Juden bei Mählern oder durch Endogamie. In Texten aus der Diaspora wie der Weisheit Salomos (Sapientia Salomonis), dem 3. Makkabäerbuch, den jüdischen Bestandteilen der sibyllinischen Orakel oder dem Bekehrungsroman „Joseph und Aseneth“ wurde dies literarisch ausgearbeitet, teils mit schärfster Polemik gegen andere Völker.
3.7.1 Lokale Entwicklungen in der Diaspora
(Judentum in Ägypten)
Geographisch lassen sich einige Regionen hervorheben, in denen judäische Minderheiten besonders stark vertreten waren: In Ägypten stellte das judäische Ethnos schon seit dem 6./5. Jh. v. Chr. eine auch zahlenmäßig bedeutende Bevölkerungsgruppe dar, die in der frühen Kaiserzeit trotz ihrer Größe – Philo spricht von einer Million Judäern in Ägypten (Flacc. 43) – eine komplizierte gesellschaftliche Stellung innehatte. Seit den Ptolemäern waren die Judäer in sog. Politeuma organisiert, also in ethnisch strukturierten Einheiten mit begrenzter Selbstverwaltung, und galten als Bürger. In römischer Zeit verschlechterte sich diese soziale Stellung, da die Judäer zwischen der autochthonen Bevölkerung, den eigentlichen Ägyptern, und den Griechen und Römern standen. Die Spannungen führten zu Pogromen (38 n. Chr.) und zum Diasporaaufstand (115–117 n. Chr.; s. u. 3.7.3). In der Kyrenaika (Nordafrika) bestand ein weiteres Zentrum des Diasporajudentums mit ähnlichen Bedingungen wie in Ägypten.
(Judentum in Syrien)
In Syrien mit seiner Hauptstadt Antiochien blieben Judäer seit frühhellenistischer Zeit weitgehend unbehelligt. Josephus berichtet sogar von einer besonderen Attraktivität des Judentums in dieser Region (bell. 7,45). Diese ruhige Lage wurde durch den ersten Aufstand in Judäa kurzzeitig unterbrochen (bell. 7,46–62), konnte aber anschließend wiederhergestellt werden.
(Judentum in Kleinasien und Griechenland)
In Kleinasien und Griechenland galt dies noch viel mehr: Das Verhältnis zwischen den judäischen Minderheiten und der nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung war, abgesehen von kleineren Unstimmigkeiten über die Tempelabgaben, unproblematisch. Es wurde zusätzlich durch rechtliche Regelungen der Römer abgesichert (ant. 14,185–267; 16,160–178). Das ökonomische Aufblühen Kleinasiens durch die Pax Romana trug dazu bei, etwaige Spannungen abflauen zu lassen. Weder die beiden Aufstände in Judäa noch jener in Ägypten, der Kyrenaika und auf Zypern wurde von den judäischen Gemeinden Syriens, Kleinasiens oder Griechenlands unterstützt.
(Judentum in Rom)
Wie alle anderen Völker des Mittelmeerraums stellten auch die Judäer eine Minderheit in der Bevölkerung der Stadt Rom. Spätestens im 1. Jh. v. Chr. konnten die Judäer politisch nicht mehr vernachlässigt werden (vgl. Cicero, Flacc. 66–69). Die Zahl der Judäer in Rom steigerte sich nach der Eroberung Judäas (69 v. Chr.) auf 20.000–30.000 Personen. Ihre Vereinigungen (collegia) waren ausdrücklich erlaubt (Josephus, ant. 14,213–216). Aus Inschriften lassen sich wenigstens elf Synagogen belegen. Durch römische Schriftsteller wie Ovid, Horaz, Petronius, Juvenal oder Tacitus wird deutlich, dass die Besonderheit judäischer Identität in Rom auffiel. Die Arbeitsruhe am Sabbat, die Beschneidung und die Speisegesetze, vor allem die Vermeidung von Schweinefleisch, wurden verspottet. Zugleich wurde die Übernahme judäischer Kultur und Religion durch Nicht-Juden als Verrat am Vaterland gewertet (Tacitus, hist. 5,5; Juvenal, Satiren 14,96–104). In der Zeit nach Augustus, der aufgrund seiner Verbindung mit Herodes auch die Judäer in Rom geschützt hatte, kam es deshalb zu Vertreibungen von Judäern: 19 n. Chr. durch Tiberius (Josephus, ant. 18,65–84; Tacitus, ann. 2,85) und 49 n. Chr. durch Claudius (Apg 18,2; Sueton, Claud. 25,4; s. u. S. 86). Deren Wirkung dauerte allerdings nicht lange an. Der erste Aufstand hatte abgesehen von der Abgabenverpflichtung (fiscus Iudaicus; s. u. 3.7.2) keine besonderen Folgen für die Judäer in Rom, vielmehr blieben sie auch in den folgenden Jahrhunderten unbehelligt.
(Keine erlaubte Religion)
Eine reichsweite rechtliche Anerkennung des Judentums durch die Römer als religio licita („erlaubte Religion“) ist allerdings eine wissenschaftliche Fiktion. Sie basiert auf einer Formulierung des Kirchenvaters Tertullian (apol. 21,1), hat aber keinerlei Basis im römischen Recht. Vielmehr zeigen Josephus und andere Autoren, dass lediglich aufgrund von einzelnen Vorkommnissen bzw. Beschwerden die Stellung von judäischen Minderheiten in bestimmten Gebieten zeitweise von den römischen Kaisern abgesichert wurde. Dies basierte allerdings auf der grundsätzlich permissiven römischen Einstellung gegenüber fremden Kulten: Solange diese die römischen Traditionen nicht in Frage stellten oder zu Unruhen führten, konnten die Völker des Imperium Romanum ihre althergebrachten religiösen Formen selbstverständlich beibehalten. Eine formale Anerkennung oder gar Erlaubnis des Judentums als Religion gab es hingegen nicht.
3.7.2 Tempelabgabe und fiscus Iudaicus
(Tempelabgabe vor 70 n. Chr.)
Jeder männliche Judäer zwischen 20 und 50 Jahren war seit späthellenistischer Zeit durch die Tora dazu verpflichtet, eine Abgabe von zwei Denaren pro Jahr an den Jerusalemer Tempel zu leisten (vgl. Ex 30,11–16; Philo, spec. leg. 1,76–78). Diese Abgabe wurde von den lokalen Synagogen eingesammelt und nach Jerusalem gebracht (vgl. Cicero, Flacc. 28,67–69; Josephus, ant. 16,28). Sie diente u. a. dazu, das tägliche Opfer zugunsten des Kaisers zu finanzieren, war also ein Akt der Loyalität gegenüber der römischen Herrschaft und Ersatz für den Kaiserkult. Auch darüber hinaus war die Tempelabgabe eine wesentliche Einkunftsquelle für den Tempel und Jerusalem.
(Fiscus Iudaicus)
Nach dem Ende des ersten Aufstandes in Judäa und der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) verpflichtete Kaiser Vespasian alle Angehörigen des judäischen Volkes, auch Frauen und Kinder sowie Sklaven und Sklavinnen, zu einer Kopfsteuer (Josephus, bell. 7,218). Sie war dem Wiederaufbau des Jupitertempels am Kapitol in Rom gewidmet. Domitian verschärfte die Eintreibung der Steuer (Sueton, Dom. 12,2), während sein Nachfolger Nerva Missstände beendete (Cassius Dio, hist. 68,1,2). Die Abgabe wurde aber bis in das 3. Jh. n. Chr. weiter erhoben. Für die Identitätsbildung des antiken Judentums war der fiscus Iudaicus trotz der Belastung ein wichtiger Faktor. Die Zugehörigkeit zum Judentum war damit nämlich auch zu einer staatlichen Angelegenheit geworden, die in zweifelhaften Fällen eine Entscheidung verlangte. Dies betraf Proselyten, Gottesfürchtige und jüdische Christusgläubige gleichermaßen (s. u. S. 290).
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