46 Diese Hervorhebung gewinnt vor dem Hintergrund der etymologischen Herkunft des Begriffs ›Schreiben‹ weiteres Gewicht. Das Wort ›Schreiben‹ stammt, wie Vilém FlusserFlusser, Vilém medientheoretisch erläutert hat, vom lateinischen scribere scribereheißt ritzen; grapheinheißt graben, das ›ritzen‹ bedeutet, wobei das griechische grapheinals weitere Wortherkunft zunächst einmal ›graben‹ meint: In diesem Sinn sind etwa die von einem Stilus in Lehm hinterlassenen SpurenSpur ›Typographien‹. Wie wir aber wissen, meint das Wort ›graphein‹ im allgemeinen Sprachgebrauch ›schreiben‹. Es meint das Graben von Schriftzeichen – eben dieser Spuren, welche klassifizieren, vergleichen und unterscheiden sollen. Somit ist das Wort ›Typografie‹ im Grunde ein Pleonasmus, der mit ›Grubengraben‹ oder ›Schriftzeichenschreiben‹ übersetzt werden könnte. Es genügt vollauf, von ›schreiben‹ zu sprechen.47Flusser, Vilém Demnach »war Schreiben« nach FlusserFlusser, Vilém »ursprünglich eine GesteGeste, die in einen Gegenstand etwas hineingrub und sich dabei eines keilförmigen Werkzeugs (›stilus‹) bediente«.48 Zur Begriffserläuterung des Schreibens ist Flussers Theorie nicht nur einschlägig; vornehmlich seine IdeeIdee dieser ›Geste‹Die »Geste des Schreibens« (V. Flusser) leitet dessen diskursive Verortung bis heute. Während Flusser in seinem Werk Die Schriftaus dem Jahr 1987, aus der oben zitiert worden ist, seine Gedanken zur ›Geste des Schreibens‹ eingeführt hat, demonstriert ein gleichnamiges Kapitel aus seinem Versuch einer PhänomenologiePhänomenologievon 1991 diese ausführlich. Darin kommt er erneut auf den etymologischen Kontext zurück, den er metaphorisch fasst. Zu Beginn heißt es: Es handelt sich darum, ein MaterialMaterial auf eine Oberfläche zu bringen (zum Beispiel KreideKreide auf eine schwarze TafelTafel), um FormenForm zu konstruieren (zum Beispiel BuchstabenBuchstaben). Also anscheinend um eine konstruktive GesteGeste: Konstruktion = Verbindung unterschiedlicher Strukturen (zum Beispiel Kreide und Tafel), um eine neue Struktur zu formen (Buchstaben). Doch das ist ein Irrtum. Schreiben heißt nicht, Material auf eine Oberfläche zu bringen, sondern an einer Oberfläche zu kratzen, und das griechische Verb grapheinbeweist das. Der Schein trügt in diesem Fall. Vor einigen tausend Jahren hat man damit begonnen, die Oberflächen mesopotamischer Ziegel mit zugespitzten Stäben einzuritzen, und das ist der Tradition zufolge der Ursprung der Schrift. Es ging darum, Löcher zu machen, die Oberfläche zu durchdringen[26], und das ist immer noch der Fall. Schreiben heißt immer noch, Inskriptionen zu machen. Es handelt sich nicht um eine konstruktive, sondern um eine eindringende, eindringliche Geste.49Geste Vilém FlusserFlusser, Vilém wurde am 12. Mai 1920 in Prag als Sohn einer jüdisch-tschechischen Akademikerfamilie, deren Mitglieder er alle in Konzentrationslagern verlor, geboren. Nach dem Beginn eines Philosophiestudiums an der Karls-Universität flüchtete er 1939 vor den Nationalsozialisten; nach einer Station in London emigrierte er 1940 mit der Familie seiner späteren Ehefrau Edith Barth nach Brasilien. Bis 1950 war er im Im- und Export tätig, bevor er – nach intensivem Studium, Lehr- und Vortragstätigkeiten – 1962 Mitglied des Brasilianischen Philosophischen Instituts und 1967 Professor für Kommunikationstheorie an der Universität São Paulo wurde. Aufgrund der politischen Situation unter der Militärregierung verließ er 1972 Brasilien in Richtung Meran (Südtirol) und Robion (Provence). Flusser schrieb seine Texte in Englisch und Französisch, vor allem in Portugiesisch und Deutsch, seltener in seiner Muttersprache Tschechisch. 1991 war er auf Einladung von Friedrich KittlerKittler, Friedrich A. Gastprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, wo er Vorlesungen hielt, um seine Kommunikologieweiter zu denken. Nach einem Vortrag am Prager GoetheGoethe, Johann Wolfgang von-Institut starb Vilém Flusser am 27. November 1991 an den Folgen eines Autounfalls kurz vor der deutschen Grenze. Die Metapher der Durchdringung, der Eindringung ( Inskription) und Eindringlichkeit des Schreibens dominiert so dessen Begriff à la FlusserFlusser, Vilém; der etymologische Zusammenhang des deutschen Worts ›Schreiben‹ mit dem englischen Writingwird von Flusser dabei ausdrücklich herausgestellt: Das englische »to write« (das zwar, wie das lateinische »scribere«, auch »ritzen« bedeutet) erinnert daran, daß »ritzen« und »reißen« dem gleichen Stamm entspringen. Der ritzende Stilus ist ein Reißzahn, und wer Inschriften schreibt, ist ein reißender Tiger: Er zerfetzt Bilder. Inschriften sind zerfetzte, zerrissene Bildkadaver, es sind Bilder, die dem mörderischen Reißzahn des Schreibens zu Opfern wurden.50Flusser, Vilém [27]Diese bildstürmerische Begriffsbestimmung des Schreibens ist für ihn mit der Geschichte gesellschaftlicher Mechanismen konform. FlusserFlusser, Vilém konstatiert für seine Gegenwart, dass so genannte Script writer Script writer»am Ausgang der Geschichte und am Eingang der Apparate« stehen: Sie beschleunigen den Output der Geschichte, um den Apparaten den von ihnen benötigten Input zu liefern. Sie liefern die Geschichte an die Apparate aus und überliefern ihnen damit den Sinn alles Geschehens. […] Die Script writers, diese Gladiatoren, die im Medienzirkus die Schrift in Netze fangen, um sie abzuwürgen, und die dabei selbst abgewürgt werden, erwecken in uns nur darum keine Empörung, weil wir, die wir bewußtlos und ohnmächtig sind, sie hinter den Bildern überhaupt nicht wahrnehmen können. Wir nehmen den Beitrag nicht wahr, den das Alphabet den Bildern noch immer leistet. In diesem sehr entscheidenden Sinn sind wir bereits Analphabeten geworden.51 Letztendlich erfüllt eine solche SchreibweiseSchreibweiseDie »Schreibweise« (R. BarthesBarthes, Roland) die von Roland Barthes scharf gestellte gesellschaftliche Funktion des Schreibens, dass sie die »Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft« sei, d.h. die »durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische Ausdrucksweise«, die »in ihrer menschlichen Intention ergriffene FormForm«, die »somit an die großen Krisen der Geschichte gebunden ist«.52Barthes, RolandSchriftsteller Diese im Zuge einer Begriffsbestimmung des Schreibens hin und her zu wendende Schreib- und Schrift-Debatte53KulturtechnikHandschriftKittler, Friedrich A.Aufschreibesystem berührt in nuceeine politische Frage.54 Mit FlusserFlusser, Vilém formuliert: »Texte schreiben« ist in einer Gesellschaft die »eigentlich politische GesteGeste«: [28]Alles übrige politische Engagement folgt auf Texte und befolgt Texte. Wird obige Frage im konkreten Kontext des Textuniversums (und nicht »in vacuo«) gestellt, dann zeigt sich, daß ich, der Schreibende, nicht für alle Menschen, sondern für die von mir erreichbaren Empfänger da bin. Die Vorstellung, ich schreibe für jemanden»[D]er Text [wird] für den Vermittler geschrieben.«, ist nicht nur megaloman, sie ist auch Symptom eines falschen politischen Bewußtseins. Erreichbar sind für den Schreibenden nur jene Empfänger, die mit ihm durch seinen Text übermittelnde Kanäle verbunden sind. Daher schreibt er nicht unmittelbar an seine Empfänger, er schreibt vielmehr an seinen Vermittler. Er ist in erster Linie für seinen Vermittler da, wobei »in erster Linie« buchstäblich zu nehmen ist: Von der ersten Linie des Textes bis zur letzten wird der Text für den Vermittler geschrieben. Der ganze Text ist von der Tatsache getränkt, daß er in erster Linie für einen Vermittler geschrieben wurde.55Flusser, Vilém Die Vermittlungsfunktion des Schreibens, die es, wie Konrad EhlichEhlich, Konrad sagt, möglich macht, von ihr als ›Zerdehnung‹ einer KommunikationssituationKommunikationssituation zu sprechen,56Ehlich, Konrad konstituiert zugleich dessen hier mit FlusserFlusser, Vilém kurz umrissene Begriffsdimension.
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