Kapitel XII widmet sich der Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Auch in diesem Kapitel stehen die zentralen ökonomischen Kategorien Produktion und Konsum im Zentrum: Wie haben sie sich während des Krieges verändert? Welche Verteilungswirkungen hatte die Kriegswirtschaft? Wie reagierte die Wirtschaftspolitik auf die Herausforderung eines langwierigen und materialintensiven Stellungskriegs? Die Kriegswirtschaftsgeschichte als integralen Bestandteil der Wirtschaftsentwicklung des Kaiserreichs zu betrachten hebt die vorliegende Monographie von vielen anderen ab – unter anderen Knut Borchardt, Friedrich-Wilhelm Henning, Hans-Ulrich Wehler, Karl-Erich Born sowie Hubert Kiesewetter sehen eine Zäsur im Jahre 1914. 1Da der Erste Weltkrieg sowohl Kontinuitäten zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs als auch zur Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik aufweist, habe ich mich dafür entschieden diese Übergangsperiode mit zu behandeln.
Wie in Knut Borchardts knapper Darstellung der Industriellen Revolution in Deutschland stehen auch bei mir gesamtwirtschaftliche Aspekte im Vordergrund. Er wies bereits 1972 auf die Probleme der Historischen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hin, verwendet aber trotzdem die damals gerade neu erstellten Zeitreihen. Dem damaligen Forschungsstand entsprechend überschätzt |13◄ ►14| Borchardt die Wachstumsdynamik. Allerdings arbeitet er zentrale strukturelle Kennzeichen heraus: Verschiebung der Einkommen zugunsten von Kapitaleinkommen, hohe Bedeutung steigender Gesamtfaktorproduktivität für das Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitsproduktivität als Ursache von Reallohnsteigerungen. 2Borchardt fundiert die makroökonomische Perspektive mit Hilfe sektoraler Entwicklungen, die bei mir nicht in einzelnen Kapiteln untersucht werden. Für mich bilden nicht Sektoren, sondern Unternehmen und Märkte die Basisprozesse. Zudem nimmt die Betrachtung der Wirtschaftspolitik bei mir einen wesentlich breiteren Raum als bei Borchardt ein. Die als relevant erachteten Felder der Wirtschaftspolitik – Staatsfinanzen, Geldordnung und Außenwirtschaft – stimmen überein. In meiner Monographie konnten jedoch wirtschaftshistorische Erkenntnisse der vergangenen vier Dekaden verarbeitet werden.
Andere Gesamtdarstellungen der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind kaum mit der vorliegenden Monographie vergleichbar. Beispielsweise behandelt Friedrich-Wilhelm Henning gesamtwirtschaftliche Aspekte nur am Rande und fokussiert seine Darstellung auf die Entwicklung im Agrar- und Dienstleistungssektor. Wirtschaftspolitische Gesichtspunkte werden von Henning kaum gewürdigt, und unternehmenshistorische werden nahezu vollständig ausgeblendet. 3Auch Hans-Ulrich Wehlers monumentale Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914 hat einen gänzlich anderen Ausgangspunkt. Für Wehler bildete nicht Wachstum, sondern schufen Krisen und Konjunkturen den Basisprozess wirtschaftlicher Entwicklung. 4Begünstigt von der jeweiligen konjunkturellen Entwicklung entstanden ein Interventionsstaat sowie Großunternehmen und Kartelle . 5Karl-Erich Born wie auch Hubert Kiesewetter wählen in ihren Monographien einen strukturell-chronologischen Aufbau. Kiesewetter behandelt zunächst in chronologischer Reihenfolge Konjunkturschwankungen und wirtschaftspolitische Ereignisse, gefolgt von einer systematischen Behandlung der Entwicklung einzelner Sektoren und Branchen. 6Ebenso wie bei Wehler und im Gegensatz zur vorliegenden Monographie formten also konjunkturelle Entwicklungen den für die Wirtschaftsgeschichte relevanten Basisprozess. Dieser wurde durch die technologischen, organisatorischen und ökonomischen Wandlungen einzelner Branchen und Sektoren gestützt. Bei Karl-Erich Born bewirkten schließlich Demographie und Technologie den Basisprozess wirtschaftlicher Entwicklung, der sich auf die Evolution einzelner Sektoren auswirkt. 7Parallel dazu liefen wirtschaftspolitische Prozesse ab, deren zentrale |14◄ ►15| Politikfelder – die Zoll- und die Sozialpolitik – von realwirtschaftlichen Prozessen beeinflusst wurden. 8
Weitestgehend besteht somit Einigkeit darüber, dass gesamtwirtschaftliche und wirtschaftspolitische Fragen in einer Monographie zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs behandelt werden müssen. Im Detail ergeben sich jedoch Unterschiede: Dominierte der langfristige Wachstumstrend oder dominieren die kurzfristigen konjunkturellen Schwankungen? Ich stelle das langfristige Wachstum in den Vordergrund und behandle den Konjunkturverlauf als nachrangiges Phänomen. Auch hinsichtlich der relevanten Felder der Wirtschaftspolitik bestehen divergierende Ansichten. Alle Autoren behandeln die Außenwirtschaftspolitik. Darüber hinaus bilden Fiskalpolitik, Sozialpolitik, Geldpolitik und Bildungspolitik Interessenfelder einzelner Autoren. Auch ich habe hier eine Auswahl getroffen. Für viele Autoren sind Strukturwandel und sektorale Wirtschaftsentwicklung wichtige Teilaspekte. Diese werden bei mir nachrangig behandelt. Dafür stelle ich unternehmenshistorische Aspekte stärker in den Vordergrund, da Produktion meistens in Unternehmen stattfindet und die Faktoreinkommen zu großen Teilen in Unternehmen erzielt und verteilt werden.
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II. Politik, Gesellschaft und Verfassung
Wirtschaftliche Handlungen werden in einem durch gesellschaftliche und politische Strukturen, Verfassungen und außerökonomische Ereignisse begrenzten Rahmen vollzogen. Entsprechend setzt die Beschreibung und Analyse ökonomischer Gegebenheiten und Entwicklungen Grundkenntnisse der zentralen gesellschaftlichen Strukturen, verfassungsrechtlicher Normen und politischer Ereignisse voraus.
Die gesellschaftliche Struktur lässt sich anhand des Bevölkerungsaufbaus beschreiben, wobei im Deutschen Kaiserreich zwei Entwicklungen herausstechen: Bevölkerungswachstum und Urbanisierung. Zwischen 1871 und 1913 wuchs die Reichsbevölkerung von rund 40 auf circa 67 Millionen Menschen, also um rund 1,2 Prozent jährlich. Auch die Lebenserwartung stieg deutlich an. Im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs hatte ein männlicher Neugeborener eine Lebenserwartung von 35 Jahren, kurz vor Kriegsausbruch hingegen bereits von mehr als 47 Jahren. Für diese deutliche Veränderung kann man vor allem den signifikanten Rückgang der Säuglings- und Kleinkindsterblichkeit verantwortlich machen. Die deutsche Bevölkerung wurde zwischen 1871 und 1913 somit größer und älter. Das natürliche Bevölkerungswachstum aufgrund der Differenz zwischen Geburten- und Sterbeziffern wurde aber durch Migration insgesamt gebremst. Einerseits wanderten zwar 1,1 Millionen Ausländer, vor allem aus Osteuropa, in das Reich ein, andererseits aber verließen drei Millionen Deutsche ihre Heimat dauerhaft, vornehmlich Richtung Nordamerika. 9Von größerer Bedeutung als die internationale Wanderung war jedoch die Binnenmigration, insbesondere von den ostelbischen Agrargebieten ins Rheinland, nach Westfalen und in den Großraum Berlin. Zudem konzentrierte sich die Bevölkerung zunehmend in größeren Städten. Der Anteil der Menschen, die in Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern lebten, ging zwischen 1871 und 1910 von 64 auf 40 Prozent zurück. Gleichzeitig erhöhte sich der Bevölkerungsanteil, der in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern zu Hause war von 4,8 Prozent auf 21,3 Prozent. Die einzige Millionenstadt blieb jedoch Berlin, deren Einwohnerzahl zwischen 1880 und 1910 von 1,1 auf 3,7 Millionen Menschen anstieg. Kurz vor Kriegsausbruch näherte sich auch Hamburg der Millionenmarke. München, Leipzig, Dresden, Köln und Breslau hatten jeweils 500.000 bis 600.000 Einwohner. 10
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Die nackten demographischen Ziffern sagen nichts über die ausgeprägte Klassenstruktur des Kaiserreichs. Zunächst einmal bestanden zur Zeit der Reichsgründung erhebliche Einkommens- und Vermögensunterschiede, die trotz des deutlichen Wachstums des Pro-Kopf-Einkommens bis 1918 nicht ausgeglichen werden konnten. Selbst 1914 mussten noch 60 bis 70 Prozent der Lohnempfänger ein Auskommen mit einem Einkommen unterhalb der Einkommensteuergrenze haben. 11Die Gesellschaft des Kaiserreichs kann anhand zahlreicher Gegensätze stratifiziert werden: Arm und Reich, Stadt- und Landbevölkerung, Evangelisch und Katholisch, abhängig Beschäftigter und Selbstständiger, Arbeiter und Angestellter, Bürgerlicher und Adliger, Akademiker und Analphabet. Sozialer Aufstieg war kaum möglich und zog sich, wenn er denn stattfand, oft über mehrere Generationen hin. Beispielsweise fanden sich an Gymnasien und Universitäten kaum Kinder aus Arbeiterhaushalten – ihr Anteil an den Universitätsabsolventen lag unter einem Prozent. Ein sozialer Aufstieg vollzog sich somit eher innerhalb einer Klasse, beispielsweise vom ungelernten Arbeiter zum Facharbeiter, vom kleinen Beamten zum Bildungsbürger. 12
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