Hugo Friedländer
Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band
Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Vergangenheit
Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band
Hugo Friedländer
Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Vergangenheit
Impressum
Texte: © Copyright by Hugo Friedländer
Umschlag: © Copyright by Walter Brendel
Verlag: Das historische Buch, 2022
Mail: walterbrendel@mail.de
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin
Inhalt
Justizirrtümer
Irrenhausvorgänge vor Gericht
Der Beleidigungsprozeß des Berliner Stadtkommandanten, Generalleutnant z.D. Graf Kuno von Moltke gegen den Herausgeber der »Zukunft« Maximilian Harden
Grete Beier, Tochter des Bürgermeisters Beier zu Brand, wegen Ermordung ihres Bräutigams vor dem Schwurgericht zu Freiberg i. Sa.
Ein Landgerichtsrat auf der Anklagebank
Ein Nachspiel zu der Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz
Die falsche Hofdame und der falsche Kammerherr
Der Königliche Hof- und Domprediger Adolf Stöcker in dem Beleidigungsprozeß wider den Redakteur Heinrich Bäcker als Zeuge
Das Räuberwesen
Ein Liebesdrama im Berliner Tiergarten
Stiftsoberin Elise von Heusler wegen Verbrechens im Sinne des § 229 des Straf-Gesetzbuches vor den Geschworenen
Die öffentliche Meinung fordert mit Recht, daß Verbrechen die entsprechende Sühne finden. Diese Forderung ist um so gerechtfertigter, wenn es sich um Mord oder um ein ähnliches Verbrechen handelt. Ein ungesühntes Verbrechen verletzt nicht nur das öffentliche Rechtsempfinden, es trägt auch ganz wesentlich dazu bei, die öffentliche Sicherheit zu gefährden. Es ist daher ungemein bedauerlich, daß, insbesondere in den Großstädten, vornehmlich in der Weltstadt Berlin, eine große Anzahl Kapitalverbrechen, trotz der größten Bemühungen der Kriminalpolizei, unentdeckt geblieben sind. Es will mir kaum scheinen, daß mit Hilfe von Polizeihunden auf diesem Gebiete große Fortschritte gemacht werden können, zumal die Witterung dieser schätzbaren Tiere doch unmöglich als gerichtliches Beweismittel anzusehen ist. Jedenfalls haben die Verhandlungen gegen die Stiftsoberin v. Heusler vor dem Schwurgericht zu München im März 1903 und auch im Wiederaufnahmeverfahren (Oktober 1906) von neuem den Beweis geliefert, daß unser Gerichtsverfahren noch immer sehr unvollkommen ist. Ganz besonders ist das Gebiet der Zeugenbewertung noch in undurchdringliches Dunkel gehüllt. Es ist höchst betrübend, daß im Herzen Deutschlands, in der Metropole des Königreichs Bayern, eine unbescholtene ältere, den besseren Gesellschaftsklassen angehörende Dame von Volksrichtern abgeurteilt, länger denn zweieinhalb Jahre unschuldig im Zuchthause schmachten mußte. Dieser furchtbare Vorgang sollte nicht in Vergessenheit geraten, sondern Gelehrten und Volksrichtern eine ernste Mahnung sein, Zeugenaussagen aufs genaueste zu prüfen und einen Angeklagten nicht zu verurteilen, wenn bloß der Schein für seine Schuld spricht. Aber auch die medizinischen Sachverständigen sollten mit der größten Sorgfalt verfahren. »Allah weiß es besser« fügt gewöhnlich der mohammedanische Richter seinen Urteilsbegründungen hinzu. Auch Richter sollten nicht vergessen, daß alles Menschenwerk unvollkommen ist, und deshalb stets den Grund beherzigen: In dubio pro reo. (Im zweifelhaften Falle zugunsten des Angeklagten.) Lieber hundert Schuldige freisprechen, als einen Unschuldigen verurteilen. Alle Beweise sind kein Beweis. Im achtzehnten Jahrhundert soll man einen Mann bei einem Ermordeten mit blutbespritzten Kleidern und einem blutigen Messer in der Hand betroffen haben. Dieser Mann wurde selbstverständlich zum Tode verurteilt und hingerichtet. Viele Jahre später hatte ein Mann auf dem Sterbebett gestanden, daß er den Mord begangen habe. Der Hingerichtete war vollständig unschuldig; er war kurze Zeit nach der Tat, nachdem der Mörder schon in Sicherheit war, an die Stätte des Verbrechens gekommen und dort in der geschilderten Weise überrascht worden. In einer kleinen Stadt Oberschlesiens ersuchte vor vielen Jahren ein Holzhauer, der sein Handwerkszeug, eine Holzaxt, auf der Schulter trug, einen bemittelten Viehhändler, der eine sogenannte »Geldkatze«, d.h. einen ledernen Geldbeutel um den Leib geschnallt trug, ihm ein Darlehn zu geben. Der Viehhändler lehnte das ab. »Du wirst meiner gedenken,« rief der Holzhauer so laut, daß es von Leuten, die in der Nähe waren, gehört werden konnte. Nach etwa vierzehn Tagen wurde der Viehhändler erschlagen im Walde aufgefunden. Sein gefüllter Geldbeutel war geraubt. Etwa zehn Schritte von der Leiche lag eine mit Blut besudelte Axt. Es wurde festgestellt, daß es die Axt des Holzhauers war, dem der Ermordete die Bitte um ein Darlehn abgeschlagen hatte. Ebenso wurde festgestellt, daß dem Ermordeten mit dieser Axt der Schädel eingeschlagen worden war. Der Holzhauer wurde selbstverständlich sofort verhaftet, trotz aller Unschuldsbeteuerungen zum Tode verurteilt und glücklicherweise, da er fortgesetzt seine Unschuld beteuerte, zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt. Nach vielen Jahren hatte wiederum ein Mann auf dem Sterbebett das Geständnis abgelegt: Er habe gehört, wie der Holzhauer den Viehhändler auf offener Straße um ein Darlehn ersucht und als letzterer es ablehnte, laut gesagt habe: »Du wirst meiner gedenken.« Diesen Vorgang habe er (der Sterbende) sich zunutze gemacht. Er habe dem Holzhauer die Axt, die er bei Gelegenheit der Darlehnsbitte auf der Schulter trug, entwendet, den Viehhändler alsdann im Walde abgelauert und mit der Axt erschlagen.
In einer kleinen Stadt Böhmens weilte vor vielen Jahren zur Zeit der Ferien ein Student. Er besuchte fast allabendlich eine Verwandte, eine alte, alleinstehende reiche Dame, der er, da die alte Dame schwache Augen hatte, die Zeitung und auch Bücher vorlas. Eines Abends wurde der Student, ein noch sehr junger Mann, von heftigem Nasenbluten befallen. Die alte Dame lieh ihrem Neffen einige Taschentücher, zumal das einzige Taschentuch des Studenten sehr bald voller Blut wurde. Als das Nasenbluten nachgelassen hatte, steckte der Student die ihm geliehenen Taschentücher ebenfalls in die Tasche, um sie waschen zu lassen. Als er nach Hause gehen wollte, gab ihm die alte Dame eine goldene Damenuhr mit der Bitte, diese einem neben dem Studenten wohnenden Uhrmacher zur Reparatur zu übergeben. Am folgenden Morgen, als der Student noch schlief, wurde heftig an seine Tür geklopft. Der Student öffnete und sah sich mehreren Polizeibeamten gegenüber. Diese sagten ihm: In voriger Nacht sei die alte Dame, die er allabendlich besucht habe, ermordet und beraubt worden. Da er noch gestern abend bei der Ermordeten geweilt habe, stehe er in dringendem Verdacht, den Mord begangen zu haben. Der Student war wie vom Schlage getroffen. Aber was halfen ihm alle Unschuldsbeteuerungen. Die blutigen Taschentücher und die der Ermordeten gehörende goldene Damenuhr reichten ja zur Schuldüberführung vollständig aus. Der Student wurde gefesselt und ins Untersuchungsgefängnis abgeführt. Trotz aller Unschuldsbeteuerungen wurde er vor die Geschworenen gestellt und wegen Mordes zum Tode verurteilt. Da aber der Student fortgesetzt seine Unschuld beteuerte und sich des besten Leumunds erfreute, wurde er vom Kaiser von Österreich zu lebenslänglichem schwerem Kerker »begnadigt«. Nach Verlauf von zwei Jahren kam an einem schönen Sommerabend ein Kriminalbeamter in der Kleidung eines Handwerksburschen in ein böhmisches Dorf. Der Beamte war auf der Suche nach einem flüchtigen Verbrecher. Er kehrte im »Dorfkrug« ein. Nachdem er sein Ränzel, das in der Handwerksburschensprache »Berliner« genannt wird, abgelegt und sich ein Nachtlogis gesichert hatte, begab er sich auf die Dorfstraße. Da erblickte er einen großen Menschenauflauf. Er eilte hinzu und sah, daß zwei Strolche sich prügelten. Als eine Anzahl Bauernburschen die Kämpfenden getrennt hatte, rief einer der Strolche dem anderen zu: »Du verfluchter Hund, jetzt werde ich dich anzeigen. Du hast vor 2 1/2 Jahren die alte Dame ermordet, der arme Student muß unschuldig im Kerker sitzen.« »Und du hast dabei Schmiere gestanden«, rief der andere. Der Kriminalbeamte eilte zum Ortsgendarm und veranlaßte die sofortige Verhaftung der kämpfenden Strolche. Diese gestanden sehr bald, die alte Dame in jener Nacht ermordet und beraubt zu haben. Der Student wurde selbstverständlich sofort in Freiheit gesetzt und im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.
Читать дальше